Neuzeit
von Ilyas
Seit meiner Kindheit, haben meine Freundin
Julia und ich das gleiche Ziel, den gleichen Traum: Endlich das langweilige
Alltagsleben verlassen und einmal etwas erleben. Die Schule und unser
zukünftiges Leben, es ist und es wird immer Dasselbe bleiben. Jeden Tag zur
Schule, nach Hause, lernen, Hausaufgaben machen und in ein paar Jahren zur
Arbeit und alles geht von vorne los. Das ist doch kein Leben, nach dem ein
Mensch strebt. Mir wäre es sogar recht, eine Apokalypse zu erleben, nur um einmal
das Gefühl von Angst und Adrenalin zu erfahren. Dann geschah es. Vor zwei Monaten,
als ich meine Facharbeit über die Vorgeschichte Hamburgs durchlas, um sie nach
Fehlern zu untersuchen, fiel mir etwas auf. Vor einiger Zeit kam ein Gerücht
auf von einem gewissen Hennings, welcher einen angeblich riesigen Schatz besaß,
den er in Hamburg, in der Nähe seines Todesortes vergraben hatte. Diese Information
wurde wahrscheinlich als unwichtig abgestempelt und wird nur auf wenigen
Internetseiten überhaupt erwähnt, da es ja nur ein Gerücht war. Einige Absätze
später las man meistens, dass es Kämpfe zwischen mehreren Völkern gegeben habe,
wobei der Grund unbekannt sei. Es fiel mir jedoch nach einer intensiven
Recherche über den Piraten Hennings auf, dass diese Kämpfe meist in naher
Umgebung des Geburts- und Todesortes von Hennings stattfanden. Daraus schloss
ich, dass man es hier wahrscheinlich doch nicht nur mit einem Gerücht zu tun
hatte. Ich fragte mich, wie es möglich war, dass noch keiner vor mir darauf
gekommen war. Ich war sehr stolz auf mich und wollte sofort Julia Bescheid
geben; doch dann wurde mir klar, dass ich es fürs Erste besser für mich
behalte. Also recherchierte ich weiter und ich fand heraus, dass sich dieses
Gebiet in einem heutzutage verlassenen und beängstigenden Wald befindet. Es
gibt Gerüchte, dass der Wald die Menschen verschlinge, was mich natürlich
begeisterte und noch mehr Hoffnung auf die Existenz des Schatzes lieferte. An
dem Punkt fiel mir auf, dass ich nicht alleine gehen konnte, das wäre wirklich
zu viel. Ich bin zwar mutig, vielleicht auch der Mutigste aus allen elften
Klassen; nichts desto trotz, hänge ich an meinem Leben. Also schrieb ich Julia
und fragte sie nach Unterstützung. Es war wieder einmal klar, dass ich sie dazu
überreden musste, da sie für meine Lebenseinstellung viel zu ängstlich war. Sie
schrieb: „Nein, lieber nicht, meine Eltern werden es wahrscheinlich nicht
zulassen.“
„Es wird dir gefallen, glaube mir, es ist nur kurz für die Nostalgie. Das
einzige, was du tun musst, ist deine Eltern zu überreden.“ „Es wäre mal etwas Neues.
Du hast mir doch früher immer gesagt, dass du mal Lust auf etwas Neues
hättest.“, schrieb ich
„Das Problem ist liegt nicht in der Angst, es liegt an meinen Eltern.“
„Du lügst doch!“
„Nein!“
„Doch, ich kenne dich. Egal, mach was du willst, ich gehe allein!“
Als ich die letzte Nachricht tippte, zitterten meine Finger, ich wusste, dass ich alleine nicht gehen konnte. Ich glaube zwar nicht an so etwas wie einen menschenverschlingenden Wald, aber der Name existiert doch bestimmt aus einem guten Grund. Nach dem ich eine Zeitlang nachdachte, schaute ich wieder auf mein Telefon und sah ihre letzte Nachricht: „Ich schaue mal nach.“
Ich war mir nicht ganz sicher, was das bedeuten sollte. Nichts desto trotz freute ich mich unberechtigterweise. Einige Tage lang schrieb sie nichts, deshalb wartete ich weiter und weiter, bis sie mir dann nach einem Monat schrieb: „Sorry, falls du dir Sorgen gemacht hast, meine Eltern haben mich über die Ferien ohne Vorwarnung in ihre Heimat mitgenommen. Ich hatte dort kein Internet, dafür hatte ich genug Zeit über dein Angebot nachzudenken und ich bin zum Entschluss gekommen, dass ich mitkomme.“
Ich war überglücklich, vielleicht wird es nicht nur ein spannendes Abenteuer, sondern auch ein Gewinn von Reichtum. Möglicherweise finden wir auch gar nichts dachte ich mir, aber ich hoffte es und antwortete ihr sofort: „Ich habe mir doch keine Sorgen gemacht, was soll dir denn schon in den Ferien passieren? Dazu freue ich mich, dass du mitkommst. Du hast Glück, dass ich noch nicht alleine losgegangen bin.“
Sie war einen ganzen Monat lang nicht auf
WhatsApp, natürlich habe ich mir Sorgen gemacht, aber ich liebe sie doch, ich
wollte es irgendwie verschlüsselt andeuten. Aber ich glaube nicht, dass es der
richtige Weg war, das auf so eine coole Art zu machen. Ich denke, dass es mehr
Desinteresse als Maskulinität zeigt. Ich schrieb, dass wir uns in den nächsten
Ferien oder am Wochenende auf den Weg machen sollten. Sie antwortete nur mit
einem lausigen „Ok“. Ich war mir nicht sicher, ob ich sie mit der letzten
Nachricht verärgert hätte und schrieb einfach nichts mehr. Zwei Tage später
trafen wir uns in der Schule und beschlossen, am Ende des Monats zu gehen, da
wir zu dem Zeitpunkt keine Klausuren mehr haben würden. Sie zeigte mir
gegenüber keine Zeichen von Wut oder irgendwelchen negativen Gedanken.
Vielleicht machte ich mir ja nur zu viele Gedanken über solch eine unbedeutende
Sache. Als der Tag gekommen war, wurde mir klar, dass ich mich dumm benommen habe,
da ich mich nur auf diesen Ort konzentriert habe, anstatt auf meine Klausuren.
Dies führte dazu, dass ich die meisten von ihnen verhauen habe. Ich wollte
diesen Ort als meine Belohnung, für den gemeisterten Abschluss der Klausuren
besuchen, doch ich habe versagt. Ich wollte den Besuch genießen und dachte so
wenig wie möglich über mein Versagen nach. Julia und ich trafen uns also an der
Bushaltestelle Rugenbarg Nord und fuhren los. Nach wenigen Stunden kamen wir in
der Nähe des Waldes an. Während der Wanderung in den Kern des Waldes wurde mir
klar, warum dieser Ort wahrscheinlich nicht gefunden wurde. Der Wald ist ein
Naturschutzgebiet, mit dem Verbot von menschlichen Besuchern. Mir wurde kalt
ums Herz. Nach all diesen gescheiterten Klausuren bekomme ich es nicht einmal
hin, dieses Rätsel zu lösen. Ich stand in einem dunklen und regnerischen Wald
mit gebrochenem Herzen und Tränen im Gesicht. Der Regen bedeckte meine Tränen
jedoch nicht meine Traurigkeit. Ich lehnte mich an den nächstgelegenen Baum und
suchte nach einer Pause. Julia kam zu mir und fragte was sei. Der Zorn floss in
mich hinein und ich schrie sie an: „Siehst du nicht, wo wir hier gelandet sind,
was für eine Bedeutung es für mich hatte diesen Ort zu finden…!?“. Bestimmt
existiert dieser Ort nicht einmal und ich habe mir nur unnötig Hoffnungen
gemacht um Spannung in mein Leben zu bringen. Im Nachhinein tat es mir ein
wenig leid, dass ich sie angeschrien hatte, jedoch ließ sie sich nicht davon
unterkriegen, ganz im Gegenteil, sie motivierte mich und schenkte mir Hoffnung.
Sie redete ganz ruhig mit mir und sagte, dass dieses Naturschutzgebiet meine
Theorie unterstütze, da kein Mensch ein Fuß hier hinsetzen würde. Sie
überredete mich, dort einzudringen und weiter zu suchen. Wir schnitten den Zaun
mit meiner Ausrüstung, die ich mit mir trug, auf und gingen hindurch. Nach zwei
Stunden Suche schien alles hoffnungslos; ich wollte gerade aufgeben. Als ich
mich an einem Moos bedeckten Felsen anlehnte, spürte ich etwas Merkwürdiges.
Ich strich mit meiner Hand über die moosbedeckte Felswand und spürte eine
Gravierung. Sofort strich ich das Moos weg, ich sah den Umriss einer Tür. Ich
rief Julia zu mir und wir versuchten einen Weg zu finden, die Tür zu öffnen.
Nach zwei Minuten fand sie eine Art Knopf, welcher die Tür und gleichzeitig mein
Herz öffnete. Ich machte den ersten Versuch voller Vorsicht. Es war ein mit
Fackeln beleuchteter, feuchter und langer Gang. Wir gingen zusammen hinunter
und endlich hatte ich das Gefühl, wonach ich seit meiner Kindheit strebte. Ich
war so glücklich, aber ich wollte mich nicht von meinem Glück blenden lassen
und ging weiter, bis ich auf etwas trat. Mein Atem stockte, mein Herz klopfte
innerhalb von einer Sekunde immer schneller. In dieser einen Sekunde wusste ich
nicht, was ich denken oder fühlen sollte. War es Angst, ausgelöst durch
Dummheit, weil ich dachte ich müsse mich beweisen? Oder dachte ich einfach nur
nicht nach? In so kurzer Zeit schossen mir so viele Gedanken durch den Kopf,
und all meine Sinne schalteten sich aus. Ich überhörte das laute Geräusch einer
sich verschiebenden Steinplatte. Julia zog mich zurück, da ich fast in eine
Falle gelaufen wäre, die Pfeile schossen vor meinem Gesicht in die Wand. Julia
sagte „Du hast Glück gehabt, dass die Fallen hier hunderte von Jahre alt sind.
Ich glaube wir sollten umkehren, nicht dass einer von uns hier noch draufgeht.“
Sie hat recht, ich will auch nicht, dass einer von uns beiden hier stirbt. Ich
kann aber auch nicht umkehren, wir sind so weit gekommen, also sagte ich: „Du
brauchst dein Leben nicht für mich zu riskieren, ich kann verstehen, wenn du
gehen willst, ich zieh das hier dann alleine durch.“ Ich ignorierte komplett
den Fakt, dass ich gerade von ihr gerettet wurde, sie wusste genau, dass sie
mich hier nicht rausbekommt, also blieb sie mit einem lauten Seufzer bei mir.
Dieses Mal tastete ich meinen Weg ab. Nach einer kurzen Zeit kamen wir unten an
und entdeckten einen dunklen Gang, welcher zu einer alten Holztür führte. Wir
gingen vorsichtig hin und öffneten sie ein Spalt breit. Ich konnte meinen Augen
nicht trauen: Dort unten waren Menschen! Sie waren dreckig, mit schwarzweißen
Tierfellen bedeckt und sahen abgemagert aus. Sie waren zu zweit und haben
irgendetwas vom Boden gefressen. Als ich die Tür ein Stückchen weiter öffnete,
sah ich, es waren nicht nur zwei Menschen, es war eine Art Gemeinde! Es gab ein
riesiges Gebiet, dessen Existenz ich mir gar nicht hätte vorstellen können. Es
gab eine kleine Landschaft mit Vegetation und sogar ein paar Tiere. Die
Menschen bemerkten uns anfangs nicht. Wir schlichen uns an ihnen vorbei und
begaben uns hinter eines der Zelte. Julia stand voller Schweiß und mit einem schneeweißen
Gesicht vor mir und flüsterte: „H-hast du das gerade gesehen?“
„Ja, da waren Menschen, die hier zu leben scheinen.“
„N-nein das meine ich nicht. Das Lebewesen, das sie fressen, w-war ein Mensch!“
Da wurde mir klar: Aus diesem Grund wird der Wald der „menschenverschlingende
Wald“ genannt. Ich bekam Panik, mein Atmen wurde schwer und ich wusste jetzt,
dass wir nicht die ersten waren, die diesen Ort entdeckten, sondern
wahrscheinlich die letzten. Als ich über die neben dem Zelt liegenden
veralteten Holzkisten schaute, viel mir auf, dass die Tür geschlossen und die
zwei Menschen gegangen waren. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich wusste
gar nichts mehr, das Einzige, was ich wusste war, dass die Bewohner über unsere
Präsenz Bescheid wussten. Ich drehte mich zu Julia um und sah Tränen über ihr schneeweißen
Backen laufen. Ich musste etwas tun, ich dachte mir, dass diese Kannibalen
nicht weit genug entwickelt seien um einen Schlüssel oder eine angemessene Tür
zu konstruieren. Ich musste sie eintreten, um Julia und mich hier rauszuholen.
In diesem Moment vergaß ich vollkommen, was mein eigentliches Ziel war, ich
wollte einfach nur weg. Ich habe nicht darüber nachgedacht, was ich überhaupt
tue und lief einfach zur Tür ohne mich umzusehen. Als ich an der Tür ankam,
verließ mich all meine Kraft. Ich stand regungslos da und war wie eingefroren.
Dann hörte ich einen Schrei. Es war Julia! Sie hatten Julia! Ich musste mich
zusammenreisen, aber ich wusste nicht wie. Es war ein Hammer bei meinem
Werkzeug, aber ich könnte doch niemanden töten! Ich biss die Zähne zusammen und
lief hinterher. Als ich die kleinen Bauwerke umlief, sah ich es. Ein runder,
regenbogenfarbener leuchtender Stein mit einem Durchmesser von ungefähr sechs
Metern. Die Gemeinde versammelte sich vor dem Stein, sie schienen ihn förmlich
anzubeten. Der Mann, der die bewusstlose Julia auf seiner Schulter trug kam
dazu und legte sie vor den Stein, er flüsterte einem der anderen etwas ins Ohr.
Plötzlich sprintete der Mann, in dessen Ohr geflüstert worden war, direkt auf
mich zu. Für einige Sekunden rannte ich weg und fragte mich, wie ich nur so
dumm sein konnte, zu glauben, dass Angst ein schönes Gefühl sein kann; zu
glauben dass die Zeit, in der ich lebe, eine schlechte ist. Julia wird bestimmt
gleich gefressen und ich kann nichts tun, außer mich selbst in Sicherheit zu
begeben. Es ist alles meine Schuld! Meinetwegen wird sie sterben und ich
hoffentlich auch! Ich nahm meinen Mut zusammen und trat dem Mann, gegen sein
abgemagertes und zerbrechliches Bein. Er fiel hin, er konnte mir nicht folgen,
das war meine Chance. Ich lief in eines der Zelte unter eine bettartige
Konstruktion, welche aus einem mir nicht bekannten, glatten und zugleich
splittrigen Material besteht. Und jetzt liege ich hier, in völliger Dunkelheit
und habe Todesangst.
Ende