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Ohne Titel

Helen Bendfeldt

Die glücklichen Gewinner des Schreibwettbewerbs „Leben in der Quarantäne“. 

Jede*r Gewinner*in erhält einen Buchgutschein über 40 Euro.


Von der Vorderseite der Zeitung blickt mir eine Kugel entgegen. Aus ihr heraus wuchern tausende von kleinen Armen, die Hundeknochen ähneln. Oder Schachfiguren. Ihre Oberfläche ist rau, wie ein grob gewebter Teppich, wirkt aber, als wäre sie weich. Es sieht tatsächlich aus, als würde sie mich böse ansehen. „Du bist als nächstes dran. Gestern hast du beim Einkaufen in den Tomaten herumgewühlt. Ohne Handschuhe. Deine Lunge wird versteinern und du wirst langsam ersticken. So langsam wie nur möglich.“ Es ist keine besonders nette Kugel. Vielleicht auch einfach missverstanden wie die Wölfe in den Märchen. Manchmal denke ich, ihr wird mehr Macht verliehen als sie verdient. Dann denke ich an die Menschen, denen sie die Angehörigen genommen hat. Es gibt Dinge, die man vielleicht nicht laut sagen sollte, deswegen schweige ich jedes Mal und nicke, poste den „Stay Home“-Hashtag in meinen Status und frage mich, wann ich wieder ins Fitnessstudio gehen darf. Was ist schon Sport, wenn niemand sieht, dass ich ihn treibe? Jetzt gerade – so früh am Morgen und vor mir ein weiterer beeindruckend nutzloser, einsamer Tag – stört mich die weiche Kugel auf der Zeitung viel zu sehr. Also drehe ich sie um, frage mich, warum ich überhaupt ein Abo abgeschlossen habe, entdecke einen Din-a 4 Politiker mit Mundschutz auf der Rückseite, werfe sie in den Müll. Hoffentlich passieren eines Tages wieder andere Dinge auf der Welt. Bis dahin werde ich mir einreden müssen, dass sie das tun. Aber bevor ich anfange, mich zu beschweren, lese ich im Internet von all den Leuten, die schlimmer dran sind als ich. Irgendjemand hat es immer schlechter getroffen. Dafür braucht es noch nicht einmal weiche Kugeln. Im Wohnzimmer wartet der Laptop auf mich, verlangt in Form eines lauten Tons nach Produktivität. Eine Erinnerung an die morgendliche Konferenz. Noch anderthalb Minuten. Ich schreibe einer Kollegin, dass ich mich verspäte, gehe ins Bad und verabscheue ein paar Sekunden lang mein Spiegelbild. Etwas an dem Konzept von Videokonferenzen bewegt, dass mir mein Aussehen weniger egal ist als sonst. Also tusche ich meine Wimpern, trage Lippenstift auf und ignoriere mein um sein Leben vibrierendes Handy. Muss es schließlich doch ansehen. „Wir brauchen aber deinen Bericht, Sanne. Ganz am Anfang.“, schreibt meine Kollegin. Eigentlich will ich mich schlecht fühlen und ihr beichten, dass der noch gar nicht fertig und Sanne, die sonst überall die beste sein will, leider verdammt unzuverlässig ist, aber das Klingeln an der Tür rettet mich. Oder auch nicht – wer weiß, wer das ist? Vielleicht die weiche Kugel persönlich – oder in Form eines Paketboten. Ich öffne trotzdem, nachdem ich, den Lippenstift noch in der Hand, über den Flur gerannt bin, und stehe einem blonden Jungen gegenüber. Er sieht seltsam vertraut aus, als müsste ich ihn kennen oder zumindest wissen, wer er ist. Das tue ich nicht. „Hey, Sanne.“, sagt er. „Hey.“, sage ich und versuche mir im Stillen zu erklären, woher er meinen Namen weiß. Dann warten wir beide ab, dass der andere etwas sagt. Schließlich öffnet er den Mund. „Haben die dir von mir erzählt?“ Über seiner Schulter hängt ein blauer Rucksack, mit kleinen Dinosauriern darauf, für die er längst zu alt wirkt. Er gibt sich große Mühe, cool damit auszusehen, lässt ihn lässig zur Seite baumeln, obwohl das Gewicht zu viel scheint. Neben seine Füße hat er eine Sporttasche fallen lassen, eine von diesen großen, in die sogar Hockeyschläger passen. „Nein.“, sage ich. „Ehrlich gesagt, habe ich keine Ahnung, wer du bist.“ Mein Handy vibriert in meiner Hosentasche. Ich will danach greifen, fühle mich aber doch irgendwie unhöflich. Dabei stehe ich gerade vermutlich nur irgendeinem Kind gegenüber. Er trägt weiße Turnschuhe, eine graue Kapuzenjacke. Hat die Hände in den Taschen vergraben und leiert sie damit aus. Was er sagt, bringt mich weniger aus der Fassung als ich gedacht hätte. „Ich bin dein Halbbruder.“ „Oh.“ Wieder Stille, für eine Weile. Ich überlege, ob ich ihm glauben soll – oder besser, warum nicht. Niemand hätte einen Grund mir einen Streich zu spielen. Ich habe meinen Vater seit über zehn Jahren nicht mehr gesehen. Er sieht ihm ähnlich, zumindest irgendwie. Aus dem Wohnzimmer erklingt der Ton des Laptops. Mein Handy vibriert nochmal. Ich wende mich dem Jungen zu, meinem Halbbruder, wem auch immer. „Kannst du das beweisen?“ Er zuckt die Schultern. „Ich kann auch wieder gehen. Meine Mutter wartet Zuhause auf mich. Sie ist sowieso einsam.“ „Marlena?“, frage ich, entscheide mich, ihm zu glauben. Mir wird oft gesagt, ich sei zu misstrauisch. „Die hatte doch nie Probleme, Gesellschaft zu finden. Hatte auch keine Skrupel, etwas mit verheirateten Männern anzufangen, nicht?“ Der Morgen wandelt sich mit jeder Sekunde mehr zu einer unerwarteten Reise in die Vergangenheit. Einer, um die ich definitiv nicht gebeten habe. Denn wenn es in meinem Leben jemals jemanden gab, den ich gehasst habe, war es Marlena. Papas ehemalige Klassenkameradin Marlena, die nicht hübsch war, aber „irgendwie besonders“. Mit der er sich ständig traf, um zu „reden“ und schließlich einfach nicht mehr wiederkam. Marlena, die der kleinen zehnjährigen Sanne alles nahm, was sie zuvor als selbstverständlich ansah. Vermutlich auch Marlena, der Sündenbock. Aber damals wollte ich nicht hören, dass zu einer Scheidung immer zwei gehören. Oder drei. „Es geht ihr nicht gut.“, sagt der Junge. „Sie hat ihren Job verloren und Papa…“ Die Worte bleiben in der Luft hängen. Vielleicht denkt er, dass ich etwas sagen will, weil mein Mund so weit offensteht. „Was ist mit ihm?“ Und warum ist es mir nicht egal? Warum habe ich diesen Mann, der mich allein gelassen und immer wieder scheinheilig versucht hat, sich zurück in mein Leben zu schleichen, nicht einfach vergessen? „Er ist gestorben. Oder in die Hölle gegangen, falls dir das besser gefällt. Zumindest meint Mama, man soll es so sagen.“ Ich möchte tausend Dinge auf einmal fragen, sage deswegen einfach nichts. Er übernimmt das Reden. „Sie haben sich nur noch gestritten, in den Monaten vor seinem Tod. Dann sind wir in den Urlaub gefahren, um uns wieder näher zu kommen. Tirol.“ Ich nicke, weiß schon, was er meint. „Wir haben Tests gemacht, falls du dich sorgst.“, fügt er dann hinzu, hastig. „Es ist auch schon einen Monat her, dass es passiert ist. Sonst wäre ich natürlich nie gekommen, obwohl es sein letzter Wunsch war.“ „Sein letzter Wunsch?“, wiederhole ich, klinge vermutlich als wäre ich schwer von Begriff. Bin ich auch. Nichts von dem, was hier gerade passiert, ist zu erklären. In meiner Hosentasche vibriert mein Handy. Ich kann nicht anders als nachzusehen. Scrolle durch unzählige Nachrichten meiner Kollegin. Eine von einem Freund. Eine von Mama. „Ich denke an dich, hoffe wir können uns bald wieder öfter sehen. Liebe Grüße.“ Soll ich ihr schreiben? Wäre es vielleicht gerecht, sie wissen zu lassen, dass ihr erster und einziger Mann nicht mehr lebt? „Hallo Mama, Papa ist gestorben. Das hat mir Marlenas Sohn erzählt.“ Ich verwerfe den Gedanken, schreibe stattdessen meiner Kollegin. „Ja.“, sagt der Junge. „Er hat oft von dir geredet, hat immer gesagt, du wärst so klug und dass ich viel von dir lernen könnte. Irgendwann hat er deine Adresse herausgefunden, durch Zufall. Ab dann wollte er, dass ich dich kennenlerne.“ Ich runzele die Stirn. „Wieso?“ Er zuckt die Schultern. „Das wollte ich auch wissen. Konnte er aber nicht beantworten, zumindest nicht richtig. Ich glaube, er hat dich vermisst.“ Ich lache ein lautloses, bitteres Lachen. „Hätte er das getan, hätte er mich nicht allein gelassen.“, obwohl mir bewusst ist, dass ich gerade nicht gerecht bin. Die weiche Kugel denkt wohl, sie könnte mich verletzen, indem sie mir einen Mann nimmt, den ich kaum länger als zehn Jahre meines Lebens gekannt habe. Ich muss mir beweisen, dass sie das nicht tut. Der Junge zuckt die Schultern, dreht sich leicht. „Ich kann immer noch wieder gehen.“ „Nein, warte.“, ich unterdrücke den Drang, ihn am Arm zu fassen aus zwei Gründen, erinnere mich dann an die anderthalb Meter Abstand und trete zurück. „Wie heißt du denn?“ „Simon.“, er sieht zu Boden. „Wäre ich ein Mädchen geworden, wäre mein zweiter Name Sanne. Einer der Gründe, dass Mama meinen Vater gehasst hat, sagt sie.“ Ich fasse mir an den Kopf als hätte ich Fieber. Vielleicht hoffe ich auch einfach, dass ich gleich aus einem Traum aufwache. „Wie alt-“ Er beantwortet meine Frage, bevor ich sie vollständig stellen kann. „15. Seit ein paar Wochen.“ Wir schweigen. Ich denke, er malt mit seinem Schuh Kreise auf den Steinboden des Treppenhauses. In meinem Kopf schwirren lauter weiche Kugeln, die sich an mir rächen wollen. Die verdammten Tomaten im Supermarkt – oder was weiß ich, was ich sonst noch so falsch gemacht habe. Meinen Vater vergessen wollen. Mein ganzes Leben lang. „Er hat dir das Auto vererbt.“, sagt Simon schließlich. „So ein weißer Sprinter, das Kennzeichen war Mamas Geburtsdatum. Wenn du willst kannst du meine Nummer haben, dann treffen wir uns irgendwann, wenn das hier vorbei ist. Du kannst auch zur Beerdigung kommen. Auch wenn ich Mama noch überzeugen muss, eine zu machen.“ „Wer weiß.“, sage ich, reiche ihm mein Handy. Die Konferenz ist mittlerweile sowieso längst vorbei, scheint auch ohne meinen Bericht irgendwie funktioniert zu haben. „Hier, schreib deine Nummer auf.“ Das tut er, tippt ziemlich eilig, als wollte er so schnell wie möglich wieder gehen. Ich sehe ihm zu, der Rest seiner Worte kommt langsam, aber sicher bei mir an. Dann erinnere ich mich an das erste Mal, vor ein paar Monaten, dass vor dem Haus ein unbekanntes Auto stand. Es kam immer wieder, parkte unter meinem Fenster, nie länger als eine halbe Stunde. Der weiße Lack glänzte in der Sonne, das hohe Dach berührte die Zweige des nebenstehenden Baumes fast. Der Fahrer blieb im Inneren sitzen, sah sich um, war nicht zu erkennen. Irgendwann habe ich mir das Nummernschild aufgeschrieben, um sicherzugehen. Habe es tatsächlich weggeworfen, nur weil es Marlenas Geburtstag war.

 

Helen Emmi Bendfeldt, 16 J.