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60 Sekunden

Marta Miskiewicz


Er war wahrscheinlich noch im Hause unterwegs, als Frau Wolf in Herr Schuberts Kabinett kam. Dieser Ort machte den Eindruck, als ob Herr Doktor Geert Schubert nicht einmal Zeit hätte, einen Sonnenstrahl in dieses Zimmer hineinzulassen. Nur eine kleine Tischlampe brachte etwas Leben ins Kabinett. Es wirkte wie ein Abstellraum für all seine Auszeichnungen. Die Wände waren kaum noch zu sehen. Doch andererseits hatte das Zimmer etwas Gutes an sich. Es roch dort nach frischen Blumen. Eine nette Krankenschwester, Luise Peters, die vor kurzem ihr Studium absolviert hatte, kümmerte sich regelmäßig um die Blumen, welche Herr Schubert von den zufriedenen Patienten bekam.

 

Frau Wolf legte eine dicke Mappe auf den Schreibtisch. Danach drehte sie sich in Richtung einer verschlossenen alten Vitrine aus Mahagoni Holz. Sie wollte eine Flasche in die Vitrine stellen. Den teuren geschenkten Vodka. Dass Karla einen Zweitschlüssel hatte, wusste er. Das Vertrauen zwischen den beiden trat schon öfters in Erscheinung. Karla mochte es, abends etwas zu trinken, sodass Herr Schubert sie vor dem Direktor decken musste. Sie war aber nicht von Anfang so gewesen. Damals, als die beiden noch in die Medizinische Hochschule in Bremen gingen, war sie der Meinung, dass sie für immer, bis zum Tod, abstinent bliebe. Doch in ihrem Leben kam es anders. Vielleicht durch den starken Liebeskummer, den sie erlebt hatte, oder den Verlust ihres neugeborenen Kindes. Auf jeden Fall konnte sich Karla nicht von ihrem Problem lösen und die einzige Person, welche ihr Leid verstehen konnte, war damals wie heute Herr Schubert. Wer konnte ihre Situation verstehen, wenn nicht derjenige, der selbst seine Tochter verloren hatte. Es waren bald 20 Jahre.

 

20 lange, schwere Jahre, seit seine kleine Julie ermordet wurde. Die Situation war für ihn im Laufe der Zeit schwieriger geworden, weil er gar nicht damit einverstanden war, dass der Mörder nie vor dem Gericht gestanden und nie seine verdiente Strafe bekommen hatte. Der Gedanke, dass er vielleicht glücklich durch sein Leben ging, erzeugte in Geert Hass. Der Fakt, dass der Mörder psychisch krank war, war für Geert keine Ausrede. Wenn Gert nur gewusst hätte, wie der Psychopath hieß, würde er sich selbst an ihm rächen. Bekannt war ihm nur sein Gesicht, welches er nie mehr vergessen würde.

 

Herr Schubert öffnete die Tür und begrüßte Karla.

 

„Ich habe dich gerade gesucht. Hast du vielleicht die Patientendokumentationen dabei“, fragte er.

 

„Die liegen bereits auf dem Schreibtisch“, antwortete die Krankenschwester.

 

Der Arzt nahm die Dokumente in die Hand und schaute sich diese noch kurz an. Er sah sehr müde aus, als ob er zwei Nächte gar nicht geschlafen hätte. Doch ohne Rücksicht darauf, musste er jetzt operieren.

 

„Karla, wir müssen los!“, brummelte der Arzt.

 

Die Operationsräume befanden sich in dem vorletzten Stockwerk. Es war nicht viel los, die Flure schienen ruhig und leer. Vielleicht waren zwei der vielen Räume besetzt. Die Anästhesistin Sabine Walter wartete schon neben dem Operationstisch. Da sie bereits sehr viele Erfahrungen gesammelt hatte, gefiel es ihr, von ihrem beruflichen Leben zu erzählen. Dieses Mal war die junge Frau Peters ihr Opfer. Sie wusste, dass sie genau zuhören musste, weil Frau Walter immer sauer wurde, wenn niemand ihre Erzählungen würdigte und zu wenig Interesse bekundete. Für Luise war es kaum ein Problem den gelangweilten Gesichtsausdruck zu verstecken, da sie den Respekt gegenüber ihrer alten Kollegin unbedingt behalten wollte.

 

Als Herr Schubert und Frau Wolf sich umgezogen haben und bereit für die gleich folgende Operation aus der Schleuse kamen, schloss Sabine das letzte Kabel an die Apparatur an.

 

„Herr Bernd Hackmann ist schon bereit für die Narkose“, murmelte sie hinter dem Operationstisch stehend.

 

Der Arzt erstarrte bei dem Anblick des Patienten. Das, was er in seinem Inneren gefühlt hatte, erschreckte ihn. Er fühlte tiefsten, intensiven Hass. Der jahrelange Kummer, die ewige Suche nach dem Täter und das Bedürfnis nach Rache, hatten ihr Ende gefunden. Auf dem Operationstisch lag der Mörder seines Kindes. Auf seinem Operationstisch, direkt vor seiner Nase. Es dauerte nur einen Bruchteil der Sekunde, bis der verletzte Vater wusste, was für ihn zu tun war.

 

Als Frau Walter mit der Dosierung der Narkosemittel anfing, trat Herr Schubert auf wackeligen Beinen näher an das Bett von Herrn Bernd heran. Er hatte maximal 60 Sekunden, um zu sagen, was er fühlte. Er beugte sich über den Patienten, Tränen schossen ihm in die Augen und liefen langsam sein Gesicht herunter, mit zittriger Stimme flüsterte er ihm leise zu: „Du Bastard, es gibt die Gerechtigkeit im Leben doch! Dir wiederfährt jetzt das, was du meiner Tochter angetan hast. Willkommen in der Hölle!“. Die Blicke der Beiden trafen sich, der Täter blickte erschrocken zum letzten Mal in die Augen des Arztes, als im nächsten Moment die Wirkung der Narkose einsetzte.

 

Die Lichter im Operationssaal gingen aus. Man hörte nur noch, wie Frau Peters die Werkzeuge aufräumte. Es war still. Schubert wischte sich Blut von den Händen. Dieses eine, qualvolle Erlebnis nahm einen wahnsinnig großen Zeitraum seines Lebens ein, er war psychisch ausgelaugt. Geert wusch seine Hände so, als ob er nie zuvor Blut gesehen hätte, nie Arzt gewesen war und sich sehr davor ekelte.

 

Karla beobachte ihn seit Beginn der Operation, doch auch nach Ende dieser Prozedur, wollte es ihr nicht gelingen, ihren Kollegen wiedererkennen. Er wirkte wie ausgewechselt. Man konnte ihm die physische und psychische Erschöpfung ansehen. Die Schwäche und Zerbrechlichkeit in seiner ganzen Haltung, die sie durch den Spiegel erkennen konnte, war für einen professionellen Arzt unpassend. Sie schloss die Tür hinter sich und machte einen Schritt auf ihn zu. Sie wusste nicht, wie sie ein Gespräch über das Geschehene angehen sollte. Sehr nah und gleichzeitig so fern waren Karla und Geert sich in diesem Moment. Sie fühlte sich, als ob jemand eine dicke Wand zwischen die beiden gestellt hätte, die sie zu Fremden machte . Geert war so abwesend, wahrscheinlich hat er es gar nicht zur Kenntnis genommen, dass sie vor ihm stand.

 

Sie drehte an der Armatur des Wasserhahns und drehte sich gleichzeitig zu Geert um.

 

„Sag mir jetzt bitte: Was war das?“, verlangte sie vorsichtig, aber bestimmend nach einer Erklärung.

 

Auf diese Frage hatte sie keine Antwort bekommen. Sie schaute ihm tief in die Augen und versuchte dort eine Antwort zu finden. Seine Augen waren von dem andauernden Weinen angeschwollen, die Tränen flossen pausenlos, seit er seinen Patienten an diesem Morgen das erste Mal erkannt hatte.

 

„Karla, wie würdest du das an meiner Stelle machen?“, murmelte er.

 

„Wenn ich es könnte – genauso gut, wie du das gemacht hast!“, antwortete die Krankenschwester.

 

Sie suchte in seinen Augen nach Erklärungen. Sie war jetzt selbst erschöpft, weil sie immer noch nicht verstanden hat, was ihn genau in diese Lage und diesen beängstigenden Zustand gebracht hatte. Trotzdem versuchte sie weiterhin mit ihm zu kommunizieren und ihm auf verschiedene Weisen zuzusprechen.

 

„Ich verstehe, die Operation hat viel zu lange gedauert und du hast das Recht, dazu, jetzt müde zu sein, Geert“, sprach sie ihm mitfühlend zu.

 

„Karla, du verstehst nicht, was ich fühle! Du weißt nicht, wie nah ich daran war, ihn umzubringen! Ich hätte fast die Schere in seinen Kehlkopf gestochen!“, schrie er und verließ die Schleuse.

 

„Was für ein irres Zeug ist das Ganze hier?“, fragte sie ernst und doch etwas panisch.

 

„Er war das! Er hat meine kleine Julie vergewaltigt und danach brutal ermordet! Er war mein Ziel der letzten 20 Jahre. Und jetzt? Lasse ich ihn am Leben… Was für ein Feigling ich bin! Wer bin ich überhaupt? Ich hoffe, Julie verzeiht mir das. Das hoffe ich wirklich inständig. Ich werde mich ab jetzt jeden Tag dafür entschuldigen, dass ich es nicht getan habe. Ich konnte es einfach nicht. Ich bin kein Mörder, nicht wie dieser Unmensch!“, gab er wütend und verletzt von sich.

 

Karla war gerührt, sie hatte Geert schon immer sehr geschätzt, immer als einen sehr wertvollen Menschen angesehen und dieses Mal hatte er ihre Meinung von ihm so bestärkt, wie niemals zuvor.