Sevan Maeruf
Im Laufe des Lebens wird jedem Menschen eine Herausforderung gestellt, die ihm unlösbar vorkommen mag.
Man darf sich nicht verlieren in solchen Momenten. Denn, wenn alles verloren zu sein scheint, ist es die Hoffnung, die am Abgrund des Menschen ums Überleben kämpft, die uns Mut und Zuversicht auf eine bessere Zukunft verleiht und die unser bester Freund wird, in den schlimmsten und furchtbarsten Zeiten.
„Die reinste Form des Wahnsinns ist es, alles beim Alten zu belassen und gleichzeitig zu hoffen, dass sich etwas ändert.“ Albert Einstein
„Hey… ehm… hören Sie mich?“
„Oh… ja entschuldigen Sie mich, was wollten Sie bitte nochmal haben?“
Sie stand hinter dem Tresen und träumte vor sich hin. Das tat sie leider in letzter Zeit viel zu oft. In Gedanken wegschweifen an einen Ort, wo alles anders ist, wo alles besser ist.
„Kein Problem. Ich hätte gern einen Cappuccino mit Kakao und ein Stück Schwarzwälder Kirschtorte bitte“.
„Ja kommt sofort… das macht fünf Euro neunzig bitte“.
Der ältere Herr fischte aus seinem Portmonee das Kleingeld, während sie auf den Cappuccino etwas Kakao streute. Sie schaute ihn aus ihrem Blickwinkel an. Reich.
‚Er trägt einen Anzug, der nach ner Menge Geld schreit’, dachte sie sich.
Er trug mit seiner rechten Hand einen schwarzen Aktenkoffer, welchen er jetzt auf den Boden gestellt hatte um das Geld aus seinem Portmonee holen zu können. Er hatte dunkelbraunes Haar, welches schon ein paar graue Strähnchen zeigte. Er hatte dunkelgrüne Augen, die erschöpft aussahen. Es war fast so als könnten seine Augen mit ihr reden. Sie schrien förmlich wie hart und schwer er arbeitete.
Sie schnitt ihm ein großes, dickes Stück Torte ab und sprühte noch etwas Sahne auf den Rand des Tellers. Sie stellte den Teller mit Torte und die Tasse Cappuccino auf den Tresen vor dem Mann. Er schaute sie mit einem flüchtigen Lächeln kurz an und überreichte ihr das Geld. Sie sah dem Mann dabei zu wie er sich im halb gefüllten Café einen gemütlichen Platz neben dem Fenster suchte. Jetzt bemerkte sie, was sie sich die ganze Zeit gedacht hatte: Vater.
Er sah aus wie ihr Vater. Auch sein Benehmen ähnelte dem ihres Vaters; wie er sie angeschaut hatte mit seinem flüchtigen Lächeln, es erinnerte sie daran wieso sie da war, wo sie gerade ist. Sie holte aus der linken Hosentasche ihr Handy heraus und drückte die erste Nummer auf ihrer Kontaktliste. Es klingelte zwei Mal bevor er abhob.
“Irene? Wie geht’s es dir, Kind? Bist du schon fertig?“, fragte er sie in einem besorgten Ton.
„Hallo Papa. Mir geht’s gut wie immer und dir? …Ich bin bald fertig. Ich hab in ungefähr zwanzig Minuten Schluss. Hast du irgendwelche Schmerzen… soll ich dir irgendwas mitbringen?“
„Nein mir geht es hervorragend. Danke Mäuschen… ehhh aber ein Stückchen Kuchen würdest du doch deinem alten Herrn mitbringen oder etwa nicht?“. Sie lachte leise auf und ein kühles Lächeln zierte ihr Gesicht.
„Klar Papa… für dich würde ich doch alles tun. Ich muss jetzt auflegen, weil mein Chef gleich zurückkommt. Du weißt: das letzte Mal hab ich richtig Ärger bekommen, als er mich beim Telefonieren erwischt hat“. Ihr Vater seufzte laut und nickte auf der anderen Seite der Leitung.
„Ja… ein weiterer Grund für mich, dass du dort nicht arbeiten solltest… wie dem auch sei: versuch heute schnell nach Hause zu kommen, es gibt da etwas, was ich dir erzählen möchte“.
„Mach ich, Papa. Bis nachher, hab dich lieb“. Sie legte auf und machte sich wieder an die Arbeit.
Sie stand vor ihrer Wohnungstür und kramte aus ihrer Tasche den Wohnungsschlüssel. Sie öffnete die Wohnungstür und ein kühler eisiger Luftzug begrüßte sie, die Wohnung war stockdunkel und ein unwohles Gefühl breitete sich in ihr aus.
„Papa? Wieso ist es dunkel?“
Sie suchte nach dem Lichtschalter und seufzte erleichtert aus als sie ihn spüren konnte. Sie schaltete das Licht an und schrie heftig auf.
„OH MEIN GOTT!!! Papa! Kannst du mich hören?“
Er lag am Boden. Reglos. In seinen Mundwinkeln sammelten sich kleine blutige Tropfen.
Sie positionierte ihn so, dass er in stabiler Seitenlange auf dem Boden lag, bevor sie zum Haustelefon langte und wie immer den Notruf wählte. Während sie auf die Ankunft des Krankenwagens wartete, starrte sie ihren Vater an. In dieser Wohnung hatte sie ihr ganzes Leben mit ihrem Vater verbracht. Sie lebte seit neunzehn Jahren in dieser vertrauten aber dennoch fremden Wohnung. Hier verbrachte sie ihre Kindheit, ihre Jugend und womöglich auch ihr Leben als Erwachsene. Seit anderthalb Jahren hat sich jedoch alles geändert.
Seit anderthalb Jahren hat sie ihren Traum, zu studieren, links liegen gelassen um den einzigen Menschen, der ihr etwas bedeutet zu unterstützen. Ihren Vater. Vor anderthalb Jahren wurde ihm gesagt, dass er an einer seltenen Immunsystemschwäche leidet, für die es bisher keine Behandlung gibt. Ihre Mutter brannte ein Jahr nach ihrer Geburt mit irgendeinem dahergelaufenen reichen Schnösel durch und hatte seitdem nichts mehr von sich hören lassen. Da hockte sie nun und starrte ihren todkranken Vater an und wunderte sich wie unfair das Leben sein kann.
Plötzlich zuckte er heftig zusammen und gab erschütternde und gequälte Geräusche von sich. Sie näherte sich ihm mit einem besorgten Blick und fasste ihn an der Schulter an um sein Gesicht besser betrachten zu können. Ein schmerzhafter Ausdruck malte sich auf ihm aus und sie wusste, dass er nicht mehr viel Kraft hat.
„PAPA, ist alles ok? Der Notarzt wird gleich da sein. Halt noch etwas durch! Bitte!“
Er versuchte, ihr mit einem nicht sehr glaubwürdigen Nicken zu zeigen, dass es ihm gut geht und dass sie sich beruhigen kann. Ein tiefes Röcheln brachte sie außer Kontrolle, und viel mehr, dass sie mit ansehen musste wie ihr Vater nun eine giftig-blutig-dunkle Substanz erbrach und sich regelrecht seine Seele blutig auskotzte. Sie war bis ins Knochenmark schockiert, ließ sie sich das jedoch nicht anmerken, zumindest nicht vor ihrem Vater.
Sie versuchte ihn aufzuheben, rutschte aber in der blutigen Pfütze aus und schnitt sich an der Kante des Couchtisches. Sie ignorierte den Schmerz, biss die Zähne aufeinander, dass es knirschte und krempelte ihre Ärmel auf bevor sie ein zweites Mal versuchte ihn hochzuheben. Diesmal gelang es ihr, wenn auch mit viel Anstrengung. Sie setzte ihn auf die Couch und gab ihn einen Eimer, in dem er sich weiter übergeben konnte. Dann holte sie den Mopp aus der Abstellkammer und wischte das Blutbad weg so gut es ging. Einige Minuten darauf klingelte es an der Tür und sie ging hin um die Tür zu öffnen.
Die Sanitäter stürzten hinein und eilten nach Irenes Angaben sofort in das Wohnzimmer, wo sich ihr Vater vor lauter Schmerzen zusammenkrümmte. Es tat ihr weh ihn so zu sehen. Ihr Vater war in ihren Augen der stärkste Mann der Welt, auch so eine Krankheit würde ihre Vorstellung nicht beeinflussen können. Sie sah zu, wie sie ihren Vater auf die Liege hoben und so gut wie möglich verarzteten. Im Krankenhaus ging sie unentwegt auf und ab, in Gedanken komplett versunken und rechnete innerlich mit den schlimmsten Nachrichten.
Die Tür des Krankenzimmers öffnete sich und Irene drehte sich zur Tür. Dr. Meier, der Arzt, der sich seit anderthalb Jahren um ihren Vater kümmerte, kam aus dem Zimmer und ging Irene entgegen. Er war Anfang dreißig und Irenes Meinung nach sehr gut aussehend für sein Alter. Er hatte hellbraunes Haar, grau-grüne Augen und ein markantes Gesicht. Vielleicht bildete sie sich das auch nur ein, da er sich so liebevoll um ihren Vater gekümmert hatte, was automatisch dazu geführt hat, dass sie ihn sympathisch fand.
„Frau Aman? Würden Sie einen Moment mit mir sprechen?“ Er schaute sie einen kurzen Augenblick mit ernster Miene an und zeigte mit seiner Hand auf sein Büro. Sie nickte und ging in sein Büro, das neben dem Krankenzimmer lag, in dem sich ihr Vater momentan befand. Sie setzte sich auf einen der zwei freien Stühle und schaute den jungen Arzt an, der sich ihr gegenüber bereits hingesetzt hatte.
„Die Lage Ihres Vaters ist nun stabil. Wir haben die Blutungen stoppen können. Da die Blutungen aus dem Hals-Rachen-Raum stammten, gelang dies ohne weitere Probleme. Was seine akute Immunschwäche angeht, gibt es Neuigkeiten.“ Irene seufzte vor Erleichterung, aber die Ungewissheit verließ sie nicht. „Neuigkeiten? Inwiefern… hat sich seine Lage verschlechtert?“ Sie schaute ihn mit großen Augen an und man konnte ihr die Angst ansehen. Er lächelte sie an und schüttelte den Kopf. „Nein er ist zwar körperlich erschöpft, jedoch hat sich seine Krankheit nicht verschlimmert. Was ich Ihnen sagen wollte ist, dass es eine Möglichkeit gibt, seine Immunschwäche zu beseitigen. Aber es ist nicht hundertprozentig sicher, dass diese Methode effektiv ist und sie ist sehr kostspielig.“
Ihr war so, als hätte man ihr den Atem genommen und sie war nicht mehr in der Lage ihre Muskeln zu bewegen. „Frau Aman? Geht es ihnen gut? … Hallo?“ Sie atmete ein Mal tief und kräftig ein und wieder aus und richtete ihren Blick, gefüllt mit Entschlossenheit und neuer Hoffnung, auf den Arzt, der sie mit Sorge betrachtete. „Ich mach´s“
„Wissen sie wie teuer das ist? Und es ist nicht einmal sicher ob sich diese Behandlung positiv auf ihren Vater auswirken wird!“
„Ist mir egal! Ich werde es machen… ich… ich werde das Geld schon irgendwie auftreiben“
„Hören Sie mir zu. Es ist nicht einfach, eine so große Menge Geld innerhalb eines Monats aufzutreiben! zweihunderttausend Euro!!! Wie wollen sie bitte zweihunderttausend Euro auftreiben? Huh… Sie werden sich hoch verschulden müssen, um diese Behandlung zu ermöglichen und die Erwartungsrate für eine komplette Genesung ist gering.“ Sie hörte ihm gar nicht mehr zu, sie malte sich bereits aus, wie sie mit ihrem Vater zusammen wieder joggen würde und wie sie sich immer freitags abends zusammen einen Familienfilm anschauen würden. Ihre Kindheit raste an ihr vorbei und ihr wurde klar, wie sehr ihr ihr Vater fehlen würde.
Seitdem er krank ist, hat sie ab und zu an den Tod gedacht und wie es wäre, wenn er nicht mehr da wäre. Den Tod ihres Vaters würde sie niemals überleben, davon ist sie überzeugt. Ihr war bewusst, dass diese Krankheit ein Ende haben würde und die Vorstellung, dass sie in der Lage ist, zu entscheiden ob es ein gutes oder schlechtes Ende wird, brachte sie völlig und komplett aus der Bahn. Zuvor war sie nur eine nutzlose Zuschauerin des kranken Schauspiels des Schicksals, welches bestimmte ob ihr Vater heute, morgen oder nächstes Jahr sterben würde. Das Schicksal kann aber auch bestimmen wie viel Hoffnung, neuen Mut und Glück wir empfinden werden. Sie bemerkte nicht, wie das Schicksal gerade erst richtig anfing, sie zu verarschen. Denn nichts auf dieser menschlichen sterblichen Welt ist für die Ewigkeit gedacht, weder Hoffnung noch Trauer.
Eine Woche ist nun vergangen und Irene tat alles was in ihrer Macht stand um zweihunderttausend Euro irgendwie aufzubringen. Sie ging zur Bank, zu Freunden, zu Verwandten. Sie ging beten, obwohl sie ihr Leben lang gesagt hatte, dass sie Atheistin sei, aber niemand und nichts war in der Lage ihr zu helfen.
Zumindest dachte sie das und in letzter Zeit tat sie das öfter. Sie lief in den Park, in dem sie immer mit ihrem Vater zum Joggen gegangen war. Sie setzte auf eine kastanienbraune Parkbank und sah den Vögeln zu, wie sie in der Luft herumtummelten, wie sie zwitscherten, wie sie frei waren. Sie konnten überall hinfliegen, egal ob es der Südpol sei oder Paris und es sah fast so aus, als wäre ihnen alles gleichgültig. Sie nahm ihr Portmonee aus der Tasche und zählte ihr Geld. Auch das tat sie in letzter Zeit viel zu oft. Sie hörte ein Räuspern und sah zu wie sich ein schäbig gekleideter Mann neben sie setzte. Seine Kleidung war dreckig und dunkel geworden, vom Matsch und vom Leben auf der Straße. Er trug auf seinem Gesicht ein offenes und warmes Lächeln. Er strahlte regelrecht. Sie runzelte die Stirn.
Ein Mix aus Verwirrung und Bewunderung breitete sich auf ihrem Gesicht aus. Sie fragte sich warum dieser Obdachlose so fröhlich aussah. Hatte er im Lotto gewonnen? Sie traute sich jedoch nicht ihn zu fragen, deshalb blieb sie lieber leise. Er guckte ihre Hand an und erst dann bemerkte sie, dass sie immer noch das offene Portmonee in der Hand hielt. Sie schaute ihn nun mit hochgezogener, fast provozierender Augenbraue an. “Was zählst du da?“, fragte der Mann sie. ‚Ist er dumm oder tut nur so’, dachte sie sich. „Ehmm… ich zähle Geld“, antwortete sie ihm. „Das sehe ich. Aber was zählst du genau?“ Sie war verwirrt aber antwortete ihm dennoch. “Geld, wie gesagt!“ Er lachte leise vor sich hin und provozierte sie umso mehr. „Wieso lachen Sie? Haben Sie noch nie jemanden gesehen, der sein Geld zählt?“
„Doch das habe ich, aber das ist nicht der Grund warum ich lache.“
„Aha…Wieso lachen Sie denn sonst?“
„Weil du nicht verstehst, dass ich gemeint habe, wofür du das Geld benutzen willst. Ich nehme an du zählst es, damit du es verwenden kannst. Oder etwa nicht?“
„Ist das nicht der Sinn des Geldes? Es auszugeben“, antwortete sie ihm.
„Doch, doch sicherlich. Ich widerspreche dir da nicht, jedoch solltest du Geld klug verwenden, denn wenn du nicht aufpasst, kann Geld giftig werden!“ Damit stand er auf, drehte sich ein letztes Mal zu ihr um und lächelte sie flüchtig an, bevor er ging. „Warten Sie… was meinen Sie mit ‚Geld kann giftig werden’?“ Es war zu spät. Er war weg und mit ihm auch seine Warnung.
Sie stand vor dem Tor. Es war ein riesiges, rabenschwarzes Tor, welches den Eingang zur Hölle darstellte, zumindest im bildlichen Sinne. Irene hatte von einer Bekannten gehört, dass es da eine Bande gab, sogar in der Nähe ihrer Wohnung, die hohe Kredite vergeben würde. Sie würde ihnen das Geld plus Zinsen zurückzahlen, so hatte sie es sich vorgestellt. Ein Mann begleitete sie in den erstickend heißen, dunklen Saal, wo ein Mann am Ende eines langen Esstisches saß und auf sie wartete. Seine Haltung, seine Kleidung, sein Gesichtsausdruck, alles an ihm machte ihr mörderische Angst und sie wäre am liebsten davongelaufen. Das tat sie jedoch nicht. Sie schaute ihm in die Augen, er stand auf und gang auf sie langsam zu. Plötzlich hob er seine rechte Hand und zielte mit einer AK47 auf sie.
„Dein Vater verdient es nicht zu leben. Gott scheint uns zu lieben. Wie ich gehört habe soll er todkrank sein… stimmt’s oder nicht?“ fragte er sie mit einem sadistischen Lächeln.
„Ich weiß nicht woher du meinen Vater kennst aber du lügst! Mein Vater ist ein guter Mensch!“ Er lachte auf und musterte sie von Kopf zu Fuß.
„Entweder du stirbst oder er!“ „Was… was meinst du?“
„Ich mache dir ein Angebot. Wenn du einstimmst, dass ich dich hier und jetzt töten darf, werde ich dir versprechen, dass dein Vater seine Behandlung bekommen wird und dass ich ihn am Leben lasse. Was denkst du davon? Entweder du oder er, entscheide jetzt!“
Du oder er, du oder er? Sie schloss ihr Augen und holte tief Luft bevor sie ihren Mund öffnete „….“.