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Mensch, ist das lecker!

Stella Fellert


Ich fuhr über matschigen Boden. Es war holprig und bei jeder Unebenheit wackelte mein maroder Wagen, den ich einem Schrotthändler abgekauft hatte, heftig. Durch die winzigen Spalten meiner Fenster wehte ein lauer Fahrtwind, sodass ich den Geruch von Schweiß und Verzweiflung der Vorbesitzer vage wahrnehmen konnte. Mein Medizinstudium ermöglichte mir keinen großen Luxus, doch ich fand, dass jede Macke meines Wagens seinen ganz persönlichen Charme hatte. Der Motor rumorte laut, da die schlammigen Feldstraßen ihm sichtbar zu schaffen machten. Selbst jetzt regnete es noch, obwohl die hübsche Dame aus dem Wetterbericht mehrmals Sonnenschein und blauen Himmel angekündigt hatte. Stattdessen wurde es über mir zunehmend dunkler und die Sommerhitze, die sich bereits anstaute, lies nichts Gutes erahnen. Je weiter ich fuhr, desto einsamer und trostloser wurde die Umgebung, die sich vor der schmutzigen Frontscheibe abzeichnete.

 

Der alte Kassettenrekorder, mit dem ich durchgehend die gleiche Kassette von ABBA abspielte, stockte jedes Mal an der gleichen Stelle. Blind versuchte ich dem Rekorder einen Stups zu geben, da Agnetha Fältskogs schrille Stimme immer wieder den Refrain von „Dancing Queen“ wiederholte. Dabei bemerkte ich nicht, wie meine Schrottkarre mit qualmender Motorhaube langsam austuckerte und schließlich irgendwo außerhalb Londons, zwischen Rapsfeldern und dichten Büschen, zum Stehen kam. Selbst ABBA verschlug es jetzt die Sprache. Ich brauchte eine Weile, um zu realisieren, dass ich mitten im Nirgendwo gefangen war und mich hier sicher niemand, finden würde. Ein Handy hatte ich nicht, und den langen Weg durch den Matsch wollte ich auf gar keinen Fall zurückgehen.

 

Kurz vor Einbruch der Dämmerung schlug ich mich in das dichte Dickicht, da mir spontan nichts anderes einfiel. Im Hintergrund surrte noch leise meine erschöpfte Motorhaube, die ich aber schon kurz darauf nicht mehr hörte. Die Wurzeln die sich über den Boden wanden, brachen unter meinen schweren Schritten und die kommende Dunkelheit erschwerte es mir, den Ästen, die in mein Gesicht ragten, auszuweichen. Ich folgte einem Licht, das ab und zu zwischen dem Gestrüpp aufblitze und erkannte bald die Umrisse eines stattlichen Anwesens. Durch die langen Stäbe der Eisentore, beobachtete ich den hektischen Schatten einer zierlichen Person. Eine Klingel gab es nicht und meine Rufe verstummten zwischen den Blättern, die im Sturm wehten. Plötzlich stand eine Frau mittleren Alters vor mir, die so fertig mit den Nerven aussah, als hätte sie gerade erst ihre midlife crisis überwunden und hielt mir ihre Gaslaterne direkt unter die Nase. Zwischen den runden Buchsbäumen schlängelte sich ein schmaler Kieselpfad, der vom Regen in der Nacht glänzte. Wortlos folgte ich der Dame, der es anscheinend nicht ausmachte, einer komplett fremden Person die Tür zu öffnen.

 

Prächtiger Stuck schmückte die hohen Decken und alte, frisch lackierte Dielen zogen sich durch die Eingangshalle. Das alte Anwesen machte selbst von innen einen majestätischen Eindruck, der nur von einem schlechten Geruch getrübt wurde. Durch die offenen Flügeltüren schimmerte sanft das Licht eines riesigen Kronenleuchters, der direkt über einer langen gut gedeckten Ahorntafel hing. Aus dem Staunen kam ich erst, als der Hausherr über den knarzenden Boden an mich herantrat. „Bleiben Sie doch zum Dinner, es ist spät, die Tafel ist bereits gedeckt und schlafen können Sie im ersten Stock.“ Ich war verblüfft, dass es anscheinend niemanden interessierte, wer ich war oder was ich hier suchte. Selbst beim Essen beachteten sie mich nicht. Nicht einmal meinem Namen wollten sie wissen, sie verboten mir nur ausdrücklich den Zutritt zu Küche und Keller.

 

Die Nacht war stürmisch, und bei jedem Windstoß klapperten die Fensterläden gegen die Scheiben. Obwohl ich innerlich unruhig war, schlummerte ich irgendwann ein. Mitten in der Nacht, als alle Lichter schon lange erloschen waren, drang Stück für Stück und ganz allmählich ein weinerliches Wimmern in mein Zimmer.

 

Am nächsten Morgen wurde es schon früh hell und die ersten warmen Sonnenstrahlen durchbrachen die graue Wolkendecke. Ich dachte noch immer an die Geräusche, die ich in der Nacht wahrgenommen hatte, jedoch rückte die Erinnerung mit der Zeit immer mehr in den Hintergrund. Es war mir immer noch nicht möglich die Abreise anzutreten, da die Wetterverhältnisse sich über den Tag wieder verschlechterten. 

 

Es waren triste Stunden, in denen ich alleine im Haus rumgeisterte und versuchte, mir ein Bild von den dort lebenden Menschen zu machen. Der Hausherr arbeitete die meiste Zeit und die verwirrte Frau, war wie ich herausfand, die einzige Angestellte des Hauses. Einige Male schlich sie vorsichtig an mir vorbei und schaute mich besorgt aus ihren faltigen Augen an. Es schien so, als wolle sie mir irgendetwas sagen, doch wenn ich mich auf sie zu bewegte, erschrak sie wie ein junges Reh und verschwand hinter der nächsten Ecke. Im Haus fand ich nichts weiter als einige alte Familienalben mit furchtbar hässlichen Fotos, Zeitung mit rausgerissenen Seiten, ausgedrückte Zigarrenstängel und Tabletten gegen Depression. „Alles fürchterlich unpersönlich, da bräuchte ich auch Antidepressiver..“ dachte ich und lies mich mit Schwung, rückwärts in einen Sessel fallen, sodass etwas staub von den Schränken auf mich nieder rieselte. „Nicht mal putzen konnte die Frau richtig.“ Ich merkte nicht, wie mir die Augen zu fielen und wachte einige Zeit später, von einem scharren, draußen im Garten auf.

 

Durch die langen Vorhänge versuchte ich zu erkennen, was sich draußen für ein Spektakel abspielte. Bis es plötzlich leise wurde und ich aus dem Augenwinkel sah, wie der Hausherr sich durch die Haustür quetschte und vorsichtig seine nasse Kleidung ablegte. Es war bereits Bettruhe und ich versuchte mucksmäuschenstill und möglichst unbemerkt, an der Wand entlang in mein Zimmer zu kommen, da der Hausherr nicht wissen sollte, dass ich ihn gesehen hatte. Jedes Mal wenn eine Holzdiele unter meinen Füßen knarrte, zuckte ich etwas zusammen, blieb kurz stehen und verschwand letztendlich, erleichtert in meinem Zimmer. Ich hatte eigentlich keinen Grund mir ernsthafte Sorgen zu machen, da es durch aus Menschen geben mag, die allgemein etwas eigenartig und unkommunikativer sind, doch in mir sträubte sich alles gegen diese Theorie und mein Verstand sagte mir ganz deutlich, dass hier mehr in der Luft liegt, als nur ein maroder Geruch. Darauf beschloss ich, die Nacht über wach zu bleiben.

 

Als die Uhr nach Mitternacht schlug, wurden meine Augenlider immer schwerer und nur mit Mühe schaffte ich es, nicht einzuschlafen. „Da war es wieder!“ Ich hatte es mir nicht eingebildet und verrückt war ich auch nicht geworden. Langsam umkreiste ich das kleine Gästezimmer um das leise Wimmern orten zu können. Im Gegensatz zum Untergeschoss war mein Zimmer dürftig eingerichtet und erinnerte eher an eine Rumpelkammer und wirkte wenig einladend. Die Möbel waren schon deutlich in die Jahre gekommen und die Holzdielen modrig. In der hinteren Ecke stand ein alter grüngekachelter Kamin, hinter dem sich ein dickes grauses Rohr entlang zog. Obwohl das wimmern verstummt war, kam ich nicht zur Ruhe. So sollte es kommen, dass ich noch in derselben Nacht, die fehlenden Seiten der Zeitungen, unter einer losen Holzdiele fand. Es waren Vermisstenanzeigen, von jungen Mädchen, die ich in der Hand hielt. Die Namen waren rot umkreist und die Gesichter durchgestrichen. Schnell ließ ich die Ausschnitte wieder im Boden verschwinden und verwischte alle Spuren, die ich hinterlassen haben könnte. Zitternd stieg ich ins Bett, da ich mir bereits die schlimmsten Szenarien ausmalte. Die Nacht war kurz, als es morgens an meiner Zimmertür klopfte. Vorsichtig öffnete ich sie einen Spalt und linste raus in den leeren Flur. Mein Blick wanderte nach unten und meine Hand zog schnell das Tablett rein, das jemand auf der Türschwelle für mich liegengelassen hatte. Dabei verlor ich fast den Brief, der zwischen französischen Kaffekännchen eingeklemmt worden war.

 

Im Brief stand, dass die Angestellte, noch gestern Abend, auf Grund höchstwichtiger Geschäfte, in die Stadt reisen musste und der Hausherr sich heute unwohl fühle, sodass ich ihn doch bitte in Ruhe ließe. „Höchst eigenartig…“ Ich stopfte den Brief zurück in den Umschlag und pfefferte ihn in den Kamin. Das Wetter war immer noch schlecht, so schlecht, dass es nicht möglich war überhaupt nur einen Fuß aus der Tür zu setzen. Die Angestellte konnte das Anwesen also auf gar keinen Fall verlassen haben. Wieso aber sollte mir dann jemand schreiben, dass sie in die Stadt gereist war? Die Fragen, die sich mir stellten, quälten mich noch den ganzen Morgen und die Sorgen die ich mir machte, sollten sich noch am selben Tag bestätigten.

 

„Dann erzählen sie doch Mal.“ Ich setze mich in das grelle Licht des Polizeipräsidiums.

 

„Das ganze kam mir schon von Anfang an merkwürdig vor. Alles war so unglaublich unpersönlich und niemand wechselte mehr als ein, zwei Sätze mit mir. Wer lässt schon einen fremden bei sich wohnen, ohne wissen zu wollen wer er ist? Die Hausangestellte war offensichtlich verwirrt und stand etwas neben sich… typische Nebenwirkung von starken Medikamenten, die man bei psychischen Stress oder Depressionen verschreibt.“ Ich musste es schließlich wissen, sonst wäre mein Medizinstudium völlig umsonst gewesen.

 

„Und dann der Brief in dem stand, dass sie das Haus verlassen hatte.. bei dem Wetter. Unmöglich. Sie musste also noch irgendwo stecken. Deswegen durchsuchte ich ihr Zimmer und siehe da: Mantel und Schuhe waren nicht mitgenommen worden. Natürlich denkt man dann an Mord, vor allem wenn der Hausbesitzer, mitten in der Nacht, draußen rum buddelt, am nächsten Tag nicht ansprechbar ist und man Vermisstenanzeigen unter den Holzdielen findet. Eines blieb mir aber noch unklar. Warum musste die gute Frau dran glauben?“

 

Erwartungsvolle Blicke streiften durch den Raum. „Nichts einfacher als das! Sie wurde erpresst und war kurz davor jemandem etwas zu erzählen. Deswegen musste sie zum Schweigen gebracht werden, sonst wäre der Hausherr in ernsthafte Schwierigkeiten geraten. Kennen sie das Sprichwort: Leichen im Keller haben? Ich glaube, dies käme an dieser Stelle ganz gut. Die Frau wusste, dass der Hausherr die Mädchen, aus den Vermisstenanzeigen, folterte, sie im Keller einsperrte, letztendlich umbrachte oder Teile von ihnen aß. Deshalb stank es im Haus auch so fürchterlich. Als Druckmittel benutze er ihre Tochter, die er dort ebenfalls festhielt. Daher kam auch das nächtliche Wimmern, das über die Rohre die durch die Zimmer verbunden sind, zu hören war.“ Der Polizist gegenüber von mir stutzte. 

 

„Die Frau trug ein Armband mit eingraviertem Mädchennamen. Da ist es naheliegend, dass es der Name der eigenen Tochter ist und da ich ein Zutrittsverbot für den Keller bekam, musste dort schließlich etwas sein, das ich nicht sehen sollte. Und gibt es keinen wichtigeren Grund, in so einem gruseligen Haus zu bleiben, als das eigene Kind “

 

Es klingelte und der Polizist nahm den Hörer ab. Immer wieder nickte er und schrieb hektisch, einige Notizen auf einen zerknitterten Zettel. „Ja, ja danke für ihren Anruf.“ Die Tür öffnete sich und herein kam der Hausherr, der in Handschellen, abgeführt wurde.

 

„Die Frau wurde im Garten gefunden und das Mädchen befreit“, mit diesen Worten entließen sich mich. Einige Tage später erschien ein Zeitungsbericht und ich ärgerte mich, dass mein Namen geändert wurde.