Ich saß auf dem Sofa. Gelangweilt, gestresst, müde, genervt, und was man heutzutage alles noch ist. Das Haus voller Menschen (fünf Leute, das ist viel), und
kein Ende in Sicht. Kein Ende von Videokonferenzen, Klebebandmarkierungen im Supermarkt und digitalen Yogastunden. Und was sollte ich mir auch Hoffnung machen? Auf weitere zwei Wochen haben sie den Schulstart jetzt verschoben. Seit dem geplanten sind schon Ewigkeiten vergangen. Wie sollte ich mich denn da unterhalten? Im Haus
keine andere weibliche Person als meine ekzentrische Mutter, die so der Typ ist, die gerne stundenlang Naturkosmetik shoppt oder sich über zu viel Guarkernmehl aufregt, was immer das ist.
Meine kleinen Brüder kann ich ja vergessen, und mein Vater sitzt sowieso nur 24/7 vor dem Laptop und lacht über die Tochter seines neuseeländischen Kollegen.
Ich hatte gerade mein ausgefültes, eingescanntes Arbeitsblatt auf dem Schulserver hochgeladen. Nachdem dann dieses wundervoll zufriedenstellende grüne Häkchen
erschienen war, erlaubte ich mir, mich aufs Sofa fallen zu lassen und mal nachzusehen, ob meine Freundinnen irgendetwas zu sagen hatten. Ja, Isa hatte geschrieben, dass ihre Familie wegen dem
Coronavirus jetzt nicht in den Urlaub fahren kann. Anna, Kathy und Emma hatten alle mit weinenden Emojis geantwortet. Also schickte ich schnell einen weinenden Emoji
hinterher. Ava hatte nichts geschrieben. Schon lange nicht mehr.
Das Telefon klingelte und meine Mutter kam in ihrer Backschürze mit Schneebesen in einer Hand ins Wohnzimmer gelaufen. Sie spähte auf das kleine Bildschirmchen
am Hörer und sagte trillernd: „Für dich, Juriiiiiii!”, so, als ob ich ziemlich taub wäre. Augenbrauen hochziehend legte ich mein Handy auf die Armlehne und schlenderte zum
Telefon. „Hi, Juri”, sagte Ava. Ihre Stimme klang flach und betrübt. „Ich wollte nur einmal fragen, ob wir vielleicht ein bisschen reden wollen. Mir
ist gerade so langweilig.” Ich überlegte. So richtig Lust hatte ich nicht. Immerhin musste ich noch Französisch machen, wie mir in dem Moment glücklicherweise einfiel. „Sorry”, sagte ich
also, „Ich hab Französisch immer noch nicht fertig und sollte da allmählich mal ran.” Ava seufzte. „Okay.” Und sie legte auf. Kurz guckte ich noch schuldbewusst zum Telefon, dann wandte ich
mich dem Computer zu.
Am Abend war ich völlig durch. Französisch hatte ich immer noch nicht ganz, da muss ich mich dann morgen früh aus dem Bett quälen. Und das ist schlimm, ich
kenne das. Beim Abendessen löffelte ich stumm in meiner Erbsensuppe herum. („Mit Schalen”, sagte meine Mutter enthusiastisch, „das ist sehr
gesund!”) Mein Vater tippte nebenbei auf seinem Handy herum, und meine kleinen Brüder stritten wie immer über den Löffel mit dem weißen Henkel. Dann
hebte mein Vater den Blick. „Ich habe gerade eine Nachricht von Avas Mutter bekommen”, sagte er und sofort fühlte ich mich schuldig. Aber mich
erwähnte er nicht. „Ihr geht es gerade nicht so gut. Ihr Vater liegt im Krankenhaus und…” „Wie bitte?!” erstaunt schaute ich ihn an. „Hat er…was
ist…?” „Er hat starkes Fieber und Husten.” sagte mein Vater. „Und Avas Mutter ist ja Ärztin und deswegen ständig nicht zu Hause.”
Ich lag auf meinem Bett, zerquetscht von der Welle des Schuldbewusstseins. Keine Ahnung, was mit mir los war. Ich fühlte mich schlecht. Ich hatte Ava einfach
abgelehnt und sie mit einer Ausrede konfrontiert. Ich hätte jetzt mein Sparschwein ausgeleert, um alles rückgängig zu machen. Wenn sich das wie viel anhört; immerhin spare ich schon zehn
Jahre oder so was. Nach dem Essen hatte ich so schnell, wie meine Beine es erlaubten, gefühlte zehntausend Nachrichten an Ava geschrieben, aber das
zweite Häkchen blieb grau, solange ich auch guckte. Jetzt lag ich gedankenversunken auf meinem Laken und starrte auf eine Spinne an der Decke. Normalerweise hätte ich jetzt geschrien und mich
schnellstmöglichst aus dem Zimmer entfernt, aber gerade war mir dieses Viech so egal wie meine Französischaufgaben es gerade geworden waren. Ich bin ja so eine Person, die sich sehr schnell
als sie Schuldige sieht und dann alles tut, um es irgendwie zu ändern. Meine Oma sagt immer, das ist eine „Dufte
Einstellung”. Irgendwas musste ich tun. Und jetzt, sonst würde ich noch platzen vor Schuld.
Nachdem ich mir meine Jacke übergezogen hatte, warf ich noch einen kurzen Blick auf meine Nachricht, aber Ava hatte sie wie erwartet nicht gelesen. Ich steckte
das Handy in meine Jackentasche und zog meine Schuhe an. „Wo gehst du denn hin?” fragte mein kleinster Bruder Neo. „Du musst noch Mathe machen”, sagte ich ihm und riss die Tür
auf. Draußen war es ziemlich kühl. Die Straßenlaternen waren noch nicht angegangen, aber es dämmerte schon. Nach ein paar Metern hatte ich zum
ersten Mal in sechs Wochen das Grundstück verlassen und lief zügig Richtung Nobelpreis-Viertel. Das heißt so, weil die Straßen dort nach Nobelpreisträgern benannt sind. In der Churchill-Allee
begegnete mir ein Jugendlicher, der auf Kopfhörern sehr laute und ziemlich explizite Musik hörte. Ohne Beachtung lief er an mir vorbei. Hoffentlich
waren das 1,5 Meter gewesen, dachte ich. Ava wohnte in der Curiestraße. Das Einfamilienhaus war überschattet von Bäumen. Vorsichtig drückte ich das
Tor auf. Ein schriller Quietschlaut rang durch die Straße. Schnell lief ich den Kiesweg zur Haustür hoch. In der Dämmerung konnte ich gerade noch den gut getarnten Klingelknopf finden. Ich
zögerte kurz, dann drückte ich mit dem Ellenbogen auf den Knopf.
Es dauerte eine Weile, bis die Tür aufging. Erst hörte ich Treppenabsteigen und dann öffnete sich die Haustür einen Spalt. „Juri?” Ava hatte ihren hellgrauen Schlafanzug an. (Anders als meine Mutter, die sich immer bemüht, besonders schick auszusehen,
wenn der Postbote klingelt.) „Hi, Ava”, sagte ich etwas unsicher. „Ist deine Mutter nicht zuhause?” Sofort dachte ich, dass ich etwas Falsches gefragt hatte, denn Ava seufzte und erwiderte: „Sie ist heute noch bis zehn in der Klinik.” „Hör mal zu”, sagte ich dann und atmete tief ein. „Es tut mir Leid, dass ich nicht mit dir reden wollte. Ich hatte keine Ahnung, wie schlecht es dir geht.” Sie seufzte
wieder. „Ist schon gut”, murmelte sie dann. „Ich war ja selber Schuld, dass ich es keinem erzählt habe.” Dann blickte sie hoch. „Und deswegen kommst du her? In diesem Haushalt lebt eine
Person, die…” „Das macht mir gerade nichts aus”, unterbrach ich sie. „Man muss begreifen, wie schlecht es manchen Leuten gerade geht.” Ava nickte. „Ich will daran glauben, dass mein Vater
wieder gesund wird”, sagte sie leise. „Aber ich weiß nicht, ob ich es kann.” „Wir müssen daran glauben”, versuchte ich sie zu ermutigen, „nur
zusammen können wir diese Hürde überwinden. Auch wenn ich mich gerade wie Merkel anhöre.” Ava grinste. „Danke”, sagte sie. „Was hatte unsere
Englischlehrerin immer gesagt?” „I believe in something”, erwiderte ich lächelnd.
An dem Tag hatte ich gelernt, dass eine der besten Sachen die man machen kann ist, anderen mitzuteilen, dass sie nicht allein sind.
ENDE
– Maya Krüger