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Hinter der Farbe

Hinter der Farbe 

von Gina Wodarz

 

Der Dämon starrte ihr aus neongelben Augen ins Gesicht. Zusammen mit den silbrig schimmernden Krallen hoben sie sich deutlich von seiner ansonsten in Schwarz gehüllten Gestalt ab. Jolina betrachtete ihn mit einer Mischung aus Stolz und Wehmut. Ihr neustes Werk war fertig. Wenn die Farbe getrocknet war, würde sie das Bild zur Galerie bringen, wo es dann einen Platz neben denen vieler anderer finden würde. Ungefähr drei Wochen hatte sie daran gemalt und noch vor der Fertigstellung einen Abnehmer gefunden. In letzter Zeit kamen ihre Bilder besser an, als sie es noch vor ein paar Monaten getan haben. Dabei hatte sie kaum etwas verändert. Wie jedes ihrer Werke fand auch ihr neustes seinen Ursprung auf dem kleinen, von Sonnenlicht durchfluteten, Dachboden ihres alten Mietshauses, am Stadtrand von Manhattan. Die Staffelei vor ihr trug die gleiche Art an Leinwand auf sich, wie sie es schon von Anfang an ihrer Malerkarriere getan hatte. Nicht einmal ihre Pinsel hatte sie in letzter Zeit ausgetauscht. Es musste einen anderen Grund für dieses plötzliche Interesse geben, da war sich Jolina sicher. Vielleicht hatten sich die Vorstellungen der an Kunst begeisterten Menschen einfach verändert, dachte sie. Wahrscheinlich trafen… Ein hoher Piepton durchbrach die Stille und damit auch Jolinas Gedankengang. Sie ließ leicht verwundert ihren Pinsel sinken. Die Tatsache das sie angerufen wurde überraschte sie an sich nicht sonderlich, immerhin war es der vierte an diesem Nachmittag. Ran war sie bis jetzt an keinen von ihnen gegangen. Auf ihrem Anrufbeantworter häuften sich schon seit längerem die Nachrichten der bemüht freundlich klingenden Rezeptionistinnen die appellierten, sie solle sich doch bitte endlich melden, einen Termin für die Chemotherapie ausmachen, wenigstens zu den Kontrolluntersuchungen kommen. Jolina Verlac war 47, seit zwei Jahren verwitwet und seit dreieinhalb Monaten mit Leukämie diagnostiziert. Ihr Vater meinte früher einmal zu ihr, dass es Schicksalsschläge gäbe die nicht nur das Leben einer Person veränderten, sondern auch dessen Persönlichkeit. Ereignisse die einen soweit aus der Bahn warfen, dass man den Kontakt zu seinem früheren Selbst verlor. Jolina war sich sicher, dass es diese durch Schicksalsschläge veränderten Persönlichkeiten wirklich gab, jedoch war sie ebenfalls davon überzeugt, dass sie keine von diesen war. Natürlich nahm sie der noch nicht allzu weit zurückliegende Tod ihres Mannes auch heute noch mit und der Krebs hatte sie wie ein Schlag getroffen. Aber Jolina war sich sicher, dass sie immer noch die gleiche Frau war wie zuvor. Sie stand um die gleiche Uhrzeit auf wie jeden Morgen, frühstückte das gleiche, ging dann ihrem Beruf und gleichzeitig größten Leidenschaft dem Malen nach. Es hatten sich weder ihre Interessen noch ihre Lebensweise verändert. Jolina war überzeugt davon, dass sie mit ihrem jetzigen Leben zurechtkam. Sie legte ihren Pinsel nun ganz aus ihrer Hand, öffnete die Dachbodenklappe und fing an die steile Treppe hinunterzugehen, um ins Wohnzimmer zu gelangen. Das Piepen drang immer noch laut und schrill durch die ansonsten stille Wohnung. Was sie nun eigentlich an diesen Anruf verwunderte, war das er direkt auf ihrem Handy einging. Den Ärzten hatte sie ganz bewusst nur die Nummer ihres Haustelephons gegeben. Als Jolina nachdenklich die letzten paar Treppenstufen erreichte, blieb sie mit einem Fuß plötzlich in irgendetwas hängen, weshalb sie die letzte Stufe nur noch stolpernd nehmen konnte. Im Flur stehend und tief Luft holend schaute sie neben sich und sah den kleinen Berg an Wäsche auf den gefliesten Boden, der sich vorher auf der Treppe befunden haben musste. Jolina konnte sich noch wage daran erinnern, dass sie die Kleidung vor ein paar Tagen in den Keller zum Waschen bringen wollte. Warum hatte sie das nicht längst erledigt? Sie musste es einfach vergessen haben, dachte sie. Ihr Handy klingelte immer noch und wahrscheinlich hätte sie es auch noch rechtzeitig geschafft ranzugehen, wäre es wie sie erwartet hatte, im Wohnzimmer gewesen und nicht in der Küche. Als sie nun in dem kleinen Raum stand und auf das Display schaute, sah sieh den Namen ihrer Tochter aufleuchten. Obwohl sie wusste das es wahrscheinlich völlig unbegründet war wurde sie plötzlich von einem Hauch von Sorge umgeben. Cassandra Verlac war jung, gerade einmal 17 und absolvierte zurzeit ein Austauschjahr im kilometerweiten entfernten Outback. Jolina hatte damals lange überlegt ob sie die Reise ihrer Tochter gutheißen sollte, ein junges Mädchen in einem fremden Land, gerade einmal zehn Monate nach dem Tod ihres Vaters. Aber Cassandra war wie sie selbst, sie wollte weiter machen, sich eben nicht aus der Bahn bringen lassen und in zwei Monaten würde sie nun schon wieder zurückkommen. Vor ihrem Aufbruch hat Jolina mit ihrer Tochter ausgemacht, dass sie jeden Freitag telefonierten. Heute war Montag. Cassandra hatte in den letzten acht Monaten nicht ein einziges Mal an einem anderen Tag angerufen als den sie mit Jolina ausgemacht hatte. Nachdenklich lehnte sie sich an die Küchenzeile, und schaute aus dem Fenster. Es hatte begonnen zu regnen. Der plötzliche Wetterumschwung überraschte Jolina und sie fragte sich selbst wann sie überhaupt das letzte Mal den Wetterbericht gehört hatte. Es musste an dem Tag gewesen sein, an dem sie auch das letzte Mal Nachrichten gehört hatte, doch sie hatte keine Ahnung wann das war. Ihr Blick fiel wieder auf ihr Handy. Erst jetzt fiel ihr auf das Cassandra über FaceTime angerufen hatte. Schlagartig wurden ihr wieder die, durch die Leukämie ausgelösten, rötlichen Hautausschläge an ihrem Körper bewusst. Alles fing vor zweieinhalb Monaten mit einem einfachen Ausschlag an ihren Händen an, den Jolina erstmals den ständigen Kontakt mit Acrylfarbe zuschrieb. Innerhalb kürzester Zeit hatten sich auffällige Hautbläschen zusammen mit einem schweren Krankheitsgefühl, andauernden Fieber und ständiges Zahnfleischbluten dazugesellt, was letztendlich zu ihrem Krankenhausbesuch geführt hatte. Sie erinnerte sich noch genau daran wie sie sich gefühlt hatte, als ihr die hochgewachsene, dunkelblonde Ärztin ihre Diagnose mitgeteilt hatte. Noch nie in ihrem Leben hatte sie sich so allein gefühlt, allein und schwach. Als die blonde Ärztin, dessen Name sie es einfach nicht geschafft hatte sich zu merken, ihr erzählte was nun die nächsten Schritte seien, war sie gedanklich schon bei ihrer Tochter. Cassandra hatte mit 15 ihren Vater an Lungenkrebs verloren. Jetzt auch noch eine kranke Mutter war ihr gegenüber nicht gerecht. Jolina war sich seit der ersten Sekunde ihrer Diagnose bewusst, dass sie an dieser Krankheit sterben würde. Ohne eine Chemotherapie und die Einnahme an Medikamenten hatte sie wohl kaum eine Chance auf Genesung. Das war ihr damals schon genauso klar gewesen wie heute. Dennoch schließ sie eine Behandlung vollkommen aus. Krankenhäuser veränderten die Menschen, einige mehr andere weniger. Drei Jahre ging ihr Mann dort ein und aus, blieb manchmal länger als neun Wochen stationär aufgenommen. Weder die Chemotherapie noch die Anzahl an Medikamenten hatten sein Leben letztendlich verlängert. Im Gegenteil sogar, Jolina wusste wie sehr Alex unter den Folgen der Chemo gelitten hatte. Die für andere unsichtbare Krankheit die er in sich trug, wurde durch sie sichtbar. Er litt unter seinem Haarverlust und der ständigen Übelkeit die sie ihm brachte. Er litt unter den zahlreichen Kontrolluntersuchungen und den damit immer wieder verbundenen kleinen Hoffnungsschimmern, die im nächsten Moment wieder einmal durch das Kopfschütteln der Ärzte zerschlagen wurden. Jolina musste in dieser Zeit zum großen Bedauern feststellen, das Alex einer dieser durch Schicksalsschläge veränderten Persönlichkeiten war. Die Angst vor dem Tod machte aus ihm einen anderen Menschen als den, den sie vor vielen Jahren kennengelernt und in den sie sich Hals über Kopf verliebt hatte. Er wurde vollkommen apathisch, verlor sein Interesse an den Dingen die er einst geliebt hatte, was seine kleine Familie mit einschloss. Jolinas größte Angst war, anders als die von Alex, nicht der Tod. Sie hatte Angst davor das sie sich durch die Krankheit verändern könnte, dass sie nicht mehr der gleiche Mensch war wie vorher. Dies war auch der Grund, warum sie keine Chemotherapie wollte. Sie wollte nicht das sich die Zeit die ihr noch blieb nur noch um ihren Blutkrebs drehte. Ihr neues Zuhause würde nicht das Krankenhaus werden, dachte Jolina, während sie sich einen Kaffee aufsetzte und sich auf den Stuhl vor ihr setzte. Ihre Persönlichkeit würde sich niemals so sehr verändern das Cassandra das Gefühl bekommen würde das auch ihre Mutter kurz vor ihrem Tod ihre Gefühle für sie verloren hätte, führte sie den Gedanken weiter. Jolina hatte Cassandra noch nichts von ihrer Leukämie erzählt und sie hatte es auch nicht vor. Nicht solange sie sich die nächsten zwei Monate noch in Australien befand. Sie wollte ihrer Tochter in die Augen schauen wenn sie es ihr erzählte und ihr zeigen wie gut sie mit ihrem Schicksal klar kam, wie wenig es sie verändern würde. Immer wieder ging sie die Unterhaltung mit ihrer Tochter in ihrem Kopf durch, bis ihr ein kleines rotes Licht an der Kaffeemaschine signalisierte das der Kaffee nun eingegossen werden konnte. Nachdem sie aufgestanden war, um ihre leere Tasse zu füllen, warf sie noch einen letzten Blick auf ihr Handy. Seit dem Anruf ihrer Tochter war jetzt eine knappe dreiviertel Stunde vergangen. Jolina war sich der Dauer die sie bereits in der kleinen, durch die kahlen weißen Wände kalt wirkenden Küche verbracht hatte nicht bewusst gewesen, so gedankenvertieft musste sie gewesen sein. Cassandra würde ja wohl noch einmal anrufen, wenn etwas Wichtiges wäre, dachte Jolina. Wenn sie es wieder über FaceTime machen würde, würde sie sich vorher einfach einen Schal um den Hals wickeln der ihren Ausschlag bedeckte und behaupten sie hätte eine Erkältung. Als sie nun schließlich den ersten Schluck ihres Kaffee trinken wollte, klingelte es. Ihr Blick fiel als erstes wieder auf ihr Handy und es dauerte einen Moment, bis sie verstand das es die Haustürklingel war. Erst jetzt fiel ihr auf wie lange es schon her war, dass jemand bei ihr geklingelt hatte. Eilig ging sie aus der Küche und lief den Flur entlang zur Haustür. Auf dem Weg fiel ihr Blick wieder auf den kleinen Wäscheberg, wegen dem sie vorher fast die Treppe hinuntergefallen wäre. Sie musste ihn endlich in den Keller bringen, dachte sie, verlor diesen Gedanken aber wieder als sich ihre Hand um den kühlen Griff der Türklinke legte. Plötzlich wurde sie von einer gewissen Neugier erfasst, die sie an das Gefühl erinnerte wie es für sie war vor einer weißen Leinwand zu stehen und nicht zu wissen was nach einigen Wochen Arbeit darauf zu erkennen war. Jolina drückte die Klinke runter und öffnete die Tür. Vor ihr stand ein junges Mädchen, dessen blondes Haar in nassen Strähnen an ihr herabhing. Sie war groß, hatte eine zarte Figur und hielt eine Reisetasche in der Hand. Neben ihr stand ein, mit unzähligen Aufklebern bedeckter, Koffer. „Cassandra“ hauchte Jolina und bezweifelte noch im selben Moment das ihre Tochter sie über das Unwetter hinweg gehört haben könnte, welches nun über ganz Manhattan zu liegen schien. Der Regen prasselte laut auf die umliegenden Straßen. „Hallo Mama! Überrascht?“, rief ihr ihre Tochter zu, während sie sich mit langen Schritten und einem breiten Grinsen im Gesicht zu nähern begann. Jolina entging nicht wie schnell sich ihr freudiger Ausdruck zu einem Anflug von Entsetzten umwandelte, als sie ihre Mutter von nahen sah. „Geht’s dir nicht gut? Du bist ja völlig mit Farbe bekleckert, sogar am Hals! Wann hast du denn überhaupt das letzte Mal geduscht?“ fragte Cassandra sie, wobei ihre Stimme leicht zitterte. Schlagartig fiel Jolina wieder ihr Hautausschlag ein, den Cassandra nun offensichtlich für Farbe gehalten hatte. Sie versuchte sich zu fassen. Mit klopfendem Herzen und einem leichten Schwindelgefühl trat sie von der Tür weg. „Komm erstmal rein, du holst dir bei dem Regen da draußen sonst noch den Tod!“ rief sie ihrer Tochter entgegen. Cassandra schob sich an ihrer Mutter vorbei in den Flur, wobei sie ihr einen letzten prüfenden Blick unterzog. Als sie in der Mitte des Flurs ankam stellte sie dort ihre nasse Reisetasche und ihren Koffer ab und wartete bis Jolina die Tür geschlossen hatte. „Was machst du hier?“, fragte sie ihre Tochter während sie sie an sich drückte. „Du wolltest doch erst in zwei Monaten wieder zurückkommen.“ Cassandra sah sie aus strahlenden Augen an. „Es gab irgendein Problem mit der Organisation des Austausches, weshalb die nächsten zwei Monate erst einmal ausgesetzt werden sollen. Wenn das Problem behoben ist, kann ich wieder in den Flieger steigen und die Zeit dort nachholen. Ich dachte eigentlich das du mich vielleicht vom Flughafen hättest abholen können, aber du bist nicht ans Handy gegangen.“ Sie spielte mit einer Hand an einer ihrer nassen Haarsträhnen und grinste breit. Jolina konnte es immer noch nicht richtig glauben, dass ihre Tochter nun vor ihr stand. Die nächsten zwanzig Minuten bestanden aus einem wirren Durcheinander, in denen sie sich gegenseitig mit Fragen und Erzählungen nur so bombardierten. Sie standen immer noch in dem schmalen Flur, obwohl sie sich längst hätten ins Wohnzimmer setzen können. „Wieso haben sie dich eigentlich ins Flugzeug gelassen?“ fragte Jolina plötzlich. Eigentlich hätte sie die Frage ihrer Tochter viel früher stellen sollen, aber durch die große Freude, die sie verspürt hatte als sie Cassandra nach acht Monaten schlagartig wieder vor sich stehen hatte, war sie ihr nicht eingefallen. „Du bist doch noch minderjährig, braucht man da nicht eigentlich eine Einverständniserklärung eines Erziehungsberechtigten oder so ähnlich?“ Die Mundwinkel ihrer Tochter gingen langsam nach unten. Den Glanz den Jolina noch vor wenigen Sekunden in den Augen von ihr hatte wahrnehmen können, war verschwunden. Ihre gesamte Mimik änderte sich in den Bruchteilen einer Sekunde, bevor sie den Mund öffnete um zu Antworten. „Ich bin doch heute achtzehn geworden“, sagte Cassandra mit einem Hauch an Enttäuschung in ihrer Stimme die sie durch ein schnelles Lächeln zu überspielen versuchte. „Alles gut Mama, du hast bestimmt in letzter Zeit einiges zu tun gehabt, da kann man sowas auch mal vergessen und der Tag hat ja noch ein paar Stunden.“ Sie lief den Flur in Richtung Wohnzimmer entlang, wahrscheinlich um das Thema zu wechseln oder sich endlich hinzusetzen. Jolina blieb wie versteinert stehen. Sie wurde ruckartig von einer unnatürlichen Kälte umfasst, die sie zittern ließ. Ihre Beine fühlten sich an als wären sie aus Blei. Jolina hatte den wahrscheinlich wichtigsten Geburtstag von dem Menschen vergessen, der ihr am meisten bedeutete auf dieser Welt. Irgendetwas musste schiefgelaufen sein, dachte sie. Deutlich schief. Jolina hatte ihr Leben unter Kontrolle. Auch mit der Leukämie. Die Krankheit hatte und würde sie nicht verändern, sagte sie sich, wie sie es schon unzählige Male zuvor getan hatte. Sie war die gleiche Frau wie immer, mit den gleichen Gewohnheiten und der gleichen Art zu leben, schrie sie sich in ihren Gedanken zu. Aber die Worte die sie einst jeden Tag mit Sicherheit erfüllt hatten, prallten nun an ihr ab, als hätten sie kein Gewicht mehr. Sie hatte den Geburtstag von ihrer eigenen Tochter vergessen, etwas das ihrem früheren Ich zweifelsfrei nie passiert wäre. Ihrem früheren Ich? Jolina hätte noch ewig an diesen drei Wörtern gehangen, hätte sie der Aufschrei ihrer Tochter und das darauffolgende dumpfe Geräusch nicht unterbrochen. Hastig drehte sich Jolina um und sah Cassandra auf dem langen Flur liegen, kurz vor der Treppe die hinauf zum Dachboden führte. „Cassandra“ rief sie ihr besorgt zu, „alles in Ordnung?“ Cassandra war gerade dabei sich wieder aufzurichten als sie antwortete. „Ich bin in irgendetwas hängen geblieben und aufs Knie gefallen.“ Zeitgleich vielen Jolinas und Cassandras Blick auf den Wäscheberg. Er glich nun eher einem zerklüfteten Faltengebirge als einem Berg. „Wow“, sagte ihre Tochter, „ist die Waschmaschine kaputt?“ Wie automatisch fing Jolina an zu nicken. „Ich hol dir etwas Eis zum kühlen“ sagte Jolina mit zittriger Stimme, doch es dauerte einen kurzen Moment bis sie den Blick von den einzelnen Kleidungsstücken wenden konnte. Waren es vorher auch schon so viele gewesen? Jolina war davon ausgegangen, dass sie nur die Kleidung die sie in den letzten drei vier Tagen getragen hatte, noch nicht gewaschen hatte. Auf dem Flur vor ihr lagen Kleidungstücke die sie seit fünf bis sechs Wochen nicht gewaschen haben musste. Sie war eigentlich ein ordnungsliebender Mensch, zu mindestens was die Dinge im Haushalt angingen, da war sie sich sicher. Doch sie hatte es in keiner der letzten paar Wochen geschafft, hinab in den Keller zu steigen und die Waschmaschine anzustellen. Etwas was ihr vor zweieinhalb Monaten nie passiert wäre, dämmerte es leise in ihr. Jolina wendete den Blick ab. Wie als würde sie von unsichtbaren Fäden gezogen werden, bewegte sie sich durch den Flur, bis sie sich schließlich im nächsten Moment in der Küchentür befand. Jetzt wo sie den ganzen Raum auf einmal Überblicken konnte, fiel ihr erst auf wie unordentlich er überhaupt war. In dem Spülbecken türmte sich dreckiges Geschirr, und auf der Küchenzeile standen sowohl volle als auch leere Essensverpackungen, die teilweise schon abgelaufen gewesen seien mussten. Roch es vorhin hier auch schon so? Jolina dachte daran zurück wie sie heute noch gar nicht vor allzu langer Zeit allein in der Küche saß. Den verfaulten Geruch hatte sie da noch nicht wahrgenommen, dachte Jolina, die sich jetzt mit einer Hand die Nase zuhalten musste, um ihn zu ertragen. Schnell griff sie den Eisbeutel aus dem leeren Kühlschrank, den sie längst hätte wieder füllen müssen und verlies schwer atmend die Küche. Cassandra stand nicht mehr im Flur. Die Stille die jetzt wieder dort herrschte lies ihre dunklen Gedanken zurückkehren. War es möglich, dass sie ihr Leben gar nicht mehr so weit im Griff hatte wie sie dachte? Das sie vielleicht doch mehr Angst vor dem Tod hatte als sie sich zustehen wollte? Jolina, die vor Kälte eben noch am zittern war, verspürte nun plötzlich eine ihr unvertraute Hitze. Sie stieß einen stummen schrei aus. Sie musste in letzter Zeit einfach zu sehr von ihrem letzten Kunstwerk eingenommen geworden sein, redete sie sich verzweifelt zu. Sie hatte einfach in den letzten paar Wochen keine Zeit für den Haushalt gehabt, machte sie weiter. Ihre eigenen Worte klangen in ihren Ohren wie eine Lüge, als würden sie wie ein Schleier über der Wahrheit liegen. Plötzlich sah sie eine rote Flüssigkeit auf den Boden vor ihr tropfen. Instinktiv rannte sie zum Badezimmer. Jolina wusste nicht wie lange es gedauert hatte, bis sie ihr Nasenbluten gestoppt bekam. In dem in hellgrün gestrichenen fensterlosen kleinen Raum hing zwar eine Uhr, jedoch war diese stehengeblieben. Wie lange das schon so war konnte Jolina nicht sagen. Als sie in den kleinen goldumrahmten Spiegel schaute, der über dem Waschbecken hing, erschrak sie. Es musste Monate lang her gewesen sein das sie sich das letzte Mal vor ihm angeschaut hatte. Die Frau, die ihr aus vor Schreck geweiteten Augen ins Gesicht schaute, wirkte in Jolinas Augen älter als sie überhaupt sein konnte. Sie trug eine weite Bluse, die wohl eines Tages einmal weiß gewesen war. Heute war sie verklebt von Acrylfarbe und Blut. Bei genauerem hinsehen erkannte Jolina das nicht alle Flecken davon frisch waren. Ihr Blick fiel wieder auf ihr aufgequollenes Gesicht und den glanzlosen grauen Augen, bis hin zu ihren flüchtig zusammengebundenen Haaren. Sie waren fettig. Ihr Blick wanderte an den Hals der Frau, die sie im Spiegel anschaute. Der rötliche Hautausschlag hatte sich weiter ausgebreitet und erreichte nun bald ihr Schlüsselbein. Wie konnte ihr nicht aufgefallen sein das sie sich so verändert hatte? Wieso hatte sie nicht dagegengewirkt? Jolina gefiel die Frau im Spiegel nicht. Sie konnte nicht akzeptieren zu wem sie geworden war. Die Frau im Spiegel sah nicht so aus wie sie aussah, nur weil sie vielleicht mal eine stressige Woche gehabt hatte. Sie sah so aus, weil sie krank war. Weil sie sterben würde und nichts dagegen unternahm und weil sie sich in die Idee verrannt hatte das es ihr nichts ausmachen würde. Aber es machte ihr etwas aus. Sie hatte die ganze Zeit über Angst gehabt, dass die Leukämie ihre Persönlichkeit verändern könnte, dabei war es die Flucht und die Kampflosigkeit, die sie veränderte. Für einen kurzen Moment sah sie in dem Spiegel den Dämon, den sie gezeichnet hatte. „Mama, kannst du hochkommen?“ rief Cassandra vom Dachboden. Sie musste Jolinas äußerliche Verfassung, bei dem wenigen Licht das es im Flur gab, nicht wahr genommen haben. Sie verlies das Badezimmer und ging die Treppen hinauf zur Dachbodenklappe. Sie würde nicht mehr flüchten. Das Gewitter hatte bereits aufgehört. Wenn sie den durch Tageslicht durchströmten Raum betrat würde es Cassandra sofort auffallen. Und das war gut so. Vielleicht hatte sie es ja schon an dem Bild erkannt, dass noch immer auf der Staffelei trocknete, kam es Jolina in den Sinn. Ihr wurde auf einmal klar warum ihre Bilder an Beliebtheit zugenommen hatten. Sie waren anders, anders weil sie es war. Sie spiegelten ihre innere Unzufriedenheit wider. Alle ihre letzten Werke waren dunkel und eintönig, keiner von ihnen war so weit mit heller Farbe bedeckt, dass sie gegen diese Dunkelheit ankam. Anscheinend gefiel den Menschen diese Darstellung des Lebens. Jolina nicht mehr. Durch Cassandra hatte sich ihr Blick auf die Dinge verändert. Auf einmal fühlte sie sich so, als wäre sie aus einem langen Schlaf erwacht. Der Gedanke dem Tod kampflos entgegenzutreten und sich dabei keine Angst einzustehen, kam ihr plötzlich gar nicht mehr so einfach und vor allem nicht mehr so richtig vor. Als sie die Dachbodenklappe öffnete und ihrer Tochter entgegentrat hatte sie sich bereits entschieden. Jolina würde sich ihrer Krankheit entgegenstellen, es wenigstens versuchen und Cassandra würde ihr dabei helfen. 

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