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Nur ein Mädchen

geschrieben von Emilie Lüben.

 

1987, es war ein trüber Oktobermorgen in Ostberlin, Deutschland. Die Blätter fielen langsam von den Bäumen, sodass man schon in früher Morgenstund die genauen Umrisse ihrer Körper erkennen konnte. Ganz kahl und starr. Die Welt sah noch nie so kalt aus.

Der Westwind wehte der kleinen Marie Schiller die Mütze vom Kopf.

An jenen Morgen wollte Marie trotz Unwetterwarnung im Wald mit ihrer Mutter spazieren gehen. Ihre Mutter ist für gewöhnlich eine vernünftige Frau, sie hätte gewiss einen solchen Spaziergang nicht gut geheißen, doch sie hatte keine Wahl.

Denn ausgerechnet an jenem Oktobermorgen war der Geburtstag der kleinen Marie Schiller. Sie wurde stolze acht Jahre alt und besuchte seit August die zweite Klasse einer Ostberliner Grundschule. Wie konnte Tanja Schiller ihr nur widersprechen.

Also stand Marie schon um kurz nach sechs an Tanjas Ehebett.

Wimmernd und flehend mit ganz großen Kulleraugen stand sie dort. Wie hätte sie bei diesen Anblick nur nein sagen können. Diesen Wunsch konnte sie ihr doch nicht ausschlagen, dachte sie still. Also nahm sie all ihre Müdigkeit und kippte sie mit einer Tasse Kaffee über Bord.

Marie, wie zu erwarten, stand schon, ehe Tanja den zweiten Schluck ihres Kaffees genießen konnte, mit breiten Grinsen an der Haustür.

Gekleidet in Gelb, der Regenmantel passend zu den Gummistiefeln.

Man könnte meinen, er sei ihr ein, zwei Nummern zu groß, so wie die Ärmel über ihre Handgelenke hängen. Dadurch wirkte Marie noch kleiner, als sie eh schon ist. Die Kapuze über ihren Kopf verdeckte den Großteil ihrer goldenen Locken. Die diamantfarbenen Augen strahlten noch immer aus ihren Gesicht heraus. Wie ein Funken Licht im nassen Regenwetter, sie leuchteten sie so klar wie Sterne. Endlich draußen angekommen hüpfte Marie durch die Pfützen, ihr machte der aufspritzende Schlamm nichts. Weder das schlechte Wetter, noch ihre nassen Füße kümmerten sie.

Müsste man sie in einem Wort beschreiben wäre „heiter“ ziemlich treffend. Und selbst dieses Wort ist eine Untertreibung ihres lebensfrohen Wesens.

Auch wenn die meisten Kinder zwischen fünf und neun optimistisch sind, war Marie doch anders. Sie war etwas Besonderes. Sie hatte nie schlechte Laune und konnte fast jede Situation mit einem Lächeln überwältigen. Sie war ein sonniges Kind, trotz Unwetter wurde einem warm ums Herz bei ihrem Anblick, wie sie da so freudig und kreischend durch die nassen Straßen Ostberlins sprang.

Kein Sprung zu weit, keine Pfütze zu tief für die junge Abenteurerin. Bis in den späten Nachmittag hinein verbrachte sie ihren Geburtstag im Freien. Planschend bis ihr die kalten Hände fast abfroren.

 

Böse Zungen könnten nun meinen, dass dieser Teil von Maries Geschichte nicht wirklich relevant für ihre spätere Entwicklung sei, doch ich bin geneigt dem zu widersprechen. Denn jener Oktobertag, Maries Geburtstag, war der Anfang vom Ende.

 

Während die kleine Marie im Regen vor sich hin sprang, getrieben vom Wind und dem Gefühl der Freiheit, wurde ihrer Mutter klar wie gefangen sie hier doch eigentlich waren. In der Stadt, umgeben von zu hohen Mauern und zu dunklen Gesichtern. Sie wollte sehen wie Marie den Wind nachjagt, sie soll über Felder rennen und im türkisenem Wasser baden können. Doch all dies blieb ihrer Tochter verwehrt. All das stand ihnen nicht zu, vielleicht einem anderen, aber gewiss nicht ihnen. Es waren nur belanglose Träume, Träume ohne Zukunft.

Sie wusste es, jeder wusste es. Doch irgendwo tief in ihr war noch Hoffnung, Hoffnung auf ein anderes Leben, ein besseres für sie und ihre Tochter! Einige meinen, es gehe vorüber, sie würde es verstehen, wenn Marie doch nur größer sei. Dann wäre es alles viel einfacher, wurde ihr gesagt. Doch Marie war anders, dachte sie. Marie gehörte nicht an einen solchen Ort. Sie war das pure Leben, umgeben von diesem leblosen Menschen kam sie einem vor wie ein Tier im Käfig. Eingeengt von der Gesellschaft und für immer weg gesperrt.

Man könnte sogar behaupten, dass sie ein klassisches Beispiel von verschwendetem Potential ist.

Sie wäre woanders besser aufgehoben, überall anders, nur nicht hier.

Nicht in einen so trostlosen Käfig.

Ach wie gerne würde sie diesen Käfig für Marie zerbrechen. Ausbrechen aus diesem tristem Dasein.

Einfach wegfliegen, wie ein kleiner Vogel.

Sie bräuchte auch nicht viel, sie verlangte nach nicht viel.

Sie wollte nur weg, weg von hier. An einem anderen Ort neu anfangen, zusammen mit ihrer Tochter.

Sie brauchte nur eine Chance, diese eine Chance würde ihr reichen.

Sie würde sie gewiss nicht verschwenden. Frau Schiller war noch nie eine verschwenderische Frau.

 Und manchmal wenn sie eigentlich schon lange am Schlafen sein müsste, durchlöchert Marie sie mit Fragen, Fragen über das Leben hinter der großen, grauen Betonmauer. Sie fragt sich ob der Westen wohl einem Schlaraffenland gleicht oder eher einem Paradies ähnelt. Gesagt wurde ihr Ersteres, aber fest im Herzen glaubte sie an Zweiteres. Vielleicht wollte sie es auch einfach glauben. Vielleicht war es auch einfach ein naiver, kindischer Gedanke.

Ein Wunsch, nichts weiter.

Vielleicht wäre es besser gewesen, sie würde sich einfach den Anforderungen der Menschen beugen.

Aufhören dagegen anzukämpfen. Sie müsse einfach lernen sich anzupassen, an genau dieses Leben.

Warum nur fiel es ihr so schwer.

Gegen Mittag machten die beiden sich auf den Weg nach Hause. Mittlerweile sind sie schon seit gut sieben Stunden unterwegs. An den verschiedensten Orten waren sie, im Stadtpark haben die beiden zusammen einen Blätterhaufen gebaut und später sind sie aufgebrochen um die Spielplätze der halben Stadt, unsicher zu machen. Sie hatten eine Menge Spaß und vor allem viel frische Luft. Eine etwas zu kalte Luft für Frau Schillers Geschmack. Völlig verfroren von dem kalten Herbstwind liefen sie die Straßen Ostberlins runter, auf den Weg nach Hause.

Sie kamen an unterschiedlichsten Menschen und Gebäuden vorbei. Am Supermarkt, gleich um die Ecke, am Bäcker, an dem Maries Mutter jeden Sonntag um halb neun ihre Brötchen kaufte und am Schwimmbad „Badespaß“, welches schon seit letzten Sommer geschlossen war. Der Inhaber „Herr Meiers“ ist wohl pleite gegangen. Schade, denn Marie war eine kleine Wasserratte, sie liebte es im

Sommer planschend im Wasser des Schwimmbades zu spielen.

Marie beobachtete nicht nur die Gebäude um sich herum sondern vor allem, auch die Menschen. Als sie am Schwimmbad vorbei liefen, trafen sie ihren Nachbarn, Herrn Dressert. Er lebte in der kleinen Zwei-Zimmer-Wohnung unter ihnen.

Er besitzt einen Kater und war an sich ein sehr strenger Mann. Das sah man ihm schon von weiter Ferne an. Sein Schnauzbart war ordentlich aufpoliert, er trug immer die unterschiedlichsten Anzüge oft in schwarz oder grau, passend dazu besaß er ein dutzend Zigarren, eine davon immer im Mund von Herr Dressert und er trug stets einen seinen Aktenkoffer mit sich.

Marie kann sich nicht daran erinnern Herr Dressert je ohne dieses Ding gesehen zu haben. Schon als Marie noch klein war, also noch kleiner als sie eh schon war, fragte sie sich was sich wohl dort drin befinden würde.

Doch dieses Rätsel würde sie wohl nie lösen.

Ehe Marie ihn weiter betrachten konnte, wurden ihre Gedanken von seiner Stimme unterbrochen. „Guten Tag Frau Schiller“, Herr Dressert zog seinen Hut zur Begrüßung. Danach hockte er sich zu Marie runter und schüttelte ihre zarte Hand. Marie guckte bescheiden zur Seite.

Er lächelte und richtete sich wieder auf, erst jetzt sah man ihm seine gewaltige Größe an.

Von dort oben sah er auf die Menschen herab, fast schon wie ein Greifvogel, der nur darauf wartet sich auf seine Beute zu stürzen.

Nach einer längeren Redepause setzte er wieder an: „Frau Schiller, ich habe bereits heute in der Früh bei ihnen Licht brennen gesehen, leiden sie etwa unter Schlafstörungen? Oder was bewegte sie zu jener Morgenstunde?“

Marie blickte zu ihrer Mutter auf. Sie greift nach ihrer Hand und merkte wie diese leicht zitterte. Nun verspürte auch Marie eine gewisse Nervosität. So kannte sie ihre Mutter gar nicht, so ängstlich. Ihre Mutter ist eigentlich nicht für ihre Schüchternheit bekannt, sie trifft wohl eher das Gegenteil. Eine willensstarke, allein erziehende, selbstständige Frau. Wovor hatte sie also Angst? Was könnte so angsteinflößend sein, dass selbst eine Frau wie Tanja Schiller sich zu fürchten wüsste?

Frau Schiller schluckte kurz. Dann entgegnete sie: „Die kleine Marie feiert heute ihr achtes Lebensjahr, sie war heute morgen so aufgeregt, also hatte sie mich in aller Früh aus den Bett gerissen und nach draußen geschleppt. Den ganzen Vormittag verbrachten wir draußen an der frischen Luft.“

Herr Dressert starrte einen Moment in die Leere. Ehe er sich an seinen Schnauzbart fasste. Dann atmetet er laut aus und seufzte: „Kinder…Jaja.“ Beide nickten verständlich. Die einzige, die anscheinend nicht verstand war eindeutig Marie. Sie verstand die Welt nicht mehr. Sie verstand nicht warum dieses Gespräch so angespannt wirkte und warum ihre Mutter so eingeschüchtert war. Aber ehe sie länger darüber nach denken konnte, zog ihre Mutter sie auch schon weiter. Sie verabschiedeten sich von Herr Dressert und winkten zum Abschied.

Was Marie allerdings nicht wusste, nein gar nicht wissen konnte, war, dass Frau Schiller bereits seit Wochen eine Flucht aus der Republik plant. Eine Flucht, die ein Staatsverbrechen bedeutet. Sie hatte also einen sehr plausiblen Grund zur Nervosität. Denn sollte ihr kleines Geheimnis heraus kommen wäre sie geliefert. Da gab es keine große Diskussion, für Verrat an der Republik erhält man lebenslänglich. Ohne wenn und aber, Marie würde ihre Mutter wahrscheinlich nie wieder sehen. Weggesperrt auf ewig. Als Verräterin und Verbrecherin. Und Marie, Gott habe sie selig, wäre auch nicht viel besser dran. Um ihr die „Flausen“ aus dem Kopf zu treiben, die ihre Mutter hinterlassen haben musste, würde sie weggeschickt werden. In einen anderen Haushalt, eine Pflegefamilie. Man würde kurzen Prozess mit den beiden machen. Keine Zeit für große Versprechen und lange Rechtfertigungen. Ein Hammerschlag und das Urteil wäre besiegelt. In Gedanken konnte sie das Geräusch schon hören, die Wände der Juristischen Fachanstalt schon riechen.

Frau Schiller wusste also genau worauf sie sich hier einließ, doch das Risiko war es ihr wert. Sie sah einfach keinen anderen Ausweg mehr. Sie wollte, dass es Marie einmal besser habe als sie. Marie sollen alle Möglichkeiten offen bleiben. Sie dachte zwar an die Konsequenzen ihres Scheiterns, doch was wiegt schon mehr als die Zukunft ihrer Tochter, dachte sie.

 

 

 

Freitag, 11.10.1987.

Der Tag ihrer Flucht. Es sollte alles ganz schnell gehen. Sie würden über die Schrebergärten durch den Britzer Verbindungskanal fliehen. Die Mauer einfach mit einem kleinen Wurfanker überwinden, durch den Kanal schwimmen und schon wären sie in Neukölln, Westberlin.

Gesagt getan, Tanja bereitete alles für die Flucht vor. Sie legte sich den Rucksack mit dem Wurfanker parat, heute Abend soll es geschehen. Heute Abend würde sie mit ihrer Tochter nach Westberlin fliehen.

Sie ging wie gewöhnlich am Morgen zu ihrer Arbeitsstelle. Den ganzen Vormittag war sie angespannt und in Gedanken schon bei ihrer Flucht. Doch sie musste diesen Druck standhalten. Es wäre auffällig, wenn sie trotz Krankheit nachts das Haus verlassen würde. Noch auffälliger und riskanter als es eh schon ist. Marie wusste von nichts, für sie war es ein ganz normaler Freitagvormittag. Sie ging wie für gewöhnlich früh am Morgen zur Schule. Freute sich den halben Tag auf das Wochenende und als es dann endlich so weit war, als das letzte Klingeln ertönte, rannte sie schnurstracks nach Hause zu ihrer Mutter.

Gegen elf Uhr abends weckte ihre Mutter sie, unüblicherweise. Die kleine Marie rieb sich die müden Augen, ehe sie sich erhob. Verunsichert fragte sie ihre Mutter: „Mama, was ist denn los?“ Ihre Mutter schwieg, denn sie wusste nicht, wie sie es Marie erklären sollte. Marie verstand zwar nicht, was los war, aber sie wusste, wann sie besser keine Fragen mehr stellen sollte, zum Beispiel wenn ihre Mutter verschläft und in Maries Schule erzählt, sie hätten einen Arzttermin gehabt, oder wenn die Lehrerin hysterisch fragt, ob sie die Schüler für eingeschränkt hielten. In solchen Situationen, lernte Marie, war es besser, die Fragen nicht zu beantworten.

Und genau in so einer Situation befand sie sich gerade. Ihre Mutter schien ziemlich gereizt, Marie wollte ihr Gemüt nicht verärgern und verkniff sich daher ihre Fragen. Ihre Fragen blieben zwar unbeantwortet, allerdings verstand Marie immer mehr den Ernst der Situation. Spätestens als ihre Mutter den grünen Mantel rausholte anstatt den neuen, teuren weißen wusste Marie, dass sie etwas plante.

Sie nahm ihren kleinen Stoffbären mit sich und folgte dann schweigend ihrer Mutter zum Auto. Sie schnallte sich an und fuhr los, ohne Maries Gurt, wie für gewöhnlich, zu prüfen. Sie wirkte leicht weggetreten. Dabei hatte sie eigentlich immer einen klugen oder witzigen Spruch auf Lager.

Marie machte es sich auf der Rückbank bequem, sie fuhren knapp zehn Minuten und mit jedem Kilometer, den sie hinter sich brachten, wurde die Stadt hinter ihnen immer kleiner und verschwommener.

Mit einem Mal blieben sie abrupt stehen. Ihre Mutter schaltete das Auto ab und drehte sich zu ihr um. „Hör mir jetzt gut zu Marie.“, sprach sie fast schon flüsternd, mit dem Finger vor dem Mund. Sie fuhr fort: „Wir werden nun zu einen alten Freund von mir…Gehen…“ Es schien fast so, als fehlten ihr die richtigen Worte.

Marie wurde der Ernst der Lage schnell bewusst und ehe ihre Mutter ihren nächsten Satz anfangen konnte, beugte Marie sich vor und flüsterte: „Ich weiß, Mama. Ich weiß, was wir machen werden.“ Marie begriff schnell, sie war kein Kind, welches schwer vom Begriff war. Sie verstand Zusammenhänge schnell und ahnte schon als sie das Auto betrat, was ihre Mutter vorhatte. Es war eher ein Bauchgefühl, doch es war schon länger da.

Ihre Mutter öffnete ihr die Autotür, Marie hatte gerade noch genügend Zeit nach ihren kleinen

Stoffbären zu greifen, ehe ihre Mutter die Tür zuknallte und Marie mit sich zog. Es war ganz dunkel.

An den Umrissen der Gegenstände erkannte Marie schnell, dass sie sich in der Nähe von Schrebergärten befinden müssen.

Sie hatten einen fünf Minuten Fußmarsch, ehe sie sich in einem Gebüsch, nahe der Mauer versteckten. Eng, ganz nah aneinander hockten sie da. Still und ängstlich. Und sie warteten, warteten auf den richtigen Moment. Ein Zeichen, eine gute Gelegenheit. So zumindest Frau Schiller. Marie hingegen wartete einfach nur auf die Anweisungen ihrer Mutter.

Nach gut zwanzig Minuten im Gebüsch gaben Tanjas Muskeln ein Lebenszeichen von sich. Sie habe die Wachposten nun genug beobachtet und ihr Körper könnte keine Minute länger in dieser Position verweilen. Dort vorne, gut dreißig Meter vor ihnen, war der perfekte Ort, um die Mauer zu überqueren. Obwohl es wohl nie einen perfekten Ort geben wird, wenn man den Fakt berücksichtigt, dass jede Näherung der Mauer ein Todesurteil für sie bedeutete, so war es doch der geeignetste Ort für ihre Flucht.

Sie schaute zu Marie hinüber, sie sah verängstigt aus. Ihren Stoffbären ganz eng in ihren Armen verschlungen und nah am Herzen tragend. Sie bräuchte ungefähr 30 Sekunden, um die Mauer zu überwinden. Sie würde Marie mithilfe der Räuberleiter über den Zaun heben und sich selber dann mit dem Wurfanker rüber ziehen. Dies alles muss in unter 30 Sekunden passieren, denn sonst hätten die Soldaten genug Zeit, um zu realisieren wer dort über die Mauer klettert.

Es war ein gewaltiges Risiko mit einem achtjährigen Kind zu fliehen, doch was hätte Tanja bloß zu verlieren, ein Leben in dieser Republik? Sie hängt schon seit langen nicht mehr daran. Es geht ihr einzig und allein um Marie, um Maries Zukunft.

Keine Zeit mehr für kindische Träumerein, nun müssen Taten folgen. Sie griff nach Maries Hand und bewegte sich zügig, mit geduckter Haltung Richtung Mauer. Sie hob Marie über die erste Mauer, die erste war die einfachste. Dort war noch kein Stacheldraht und keine Wiese danach folgte nur noch ein Metallgitterzaun. Und dann? Wasser. Sobald sie im Wasser wären, wären die beiden sicher.

Marie sprang auf der anderen Seite der Mauer runter. Sie landete ungeschickt auf den Beinen und verlor kurz darauf das Gleichgewicht. Nachdem sie sich wieder gesammelt hatte sprang ihre Mutter ihr nach. Auf der anderen Seite nahm sie erneut die Hand von Marie und rannte mit ihr über die Wiese hin zum nächsten Zaun. Sie waren schon fast angekommen, da erschien ein helles Licht, Frau Schiller dachte für den Hauch einer Sekunde, dass es das jetzt wäre. Sie dachte, nun wäre es endgültig vorbei. Sie dachte, sie sei gestorben, so hell blendete sie das grelle Licht der Scheinwerfer. Alle waren sie auf die beiden gerichtet. Sie wurden entdeckt. Nun war Eile geboten. Keine Zeit zum Trödeln mehr. Sie drückte Maries Hand nun noch fester als vorher. Ihre Beine konnte sie vom ganzen Zittern kaum mehr spüren, sie hatte die Kontrolle verloren. Über den Körper, so wie ihren Geist. Doch sie mussten weiter, hier konnten sie unmöglich verweilen. Sie waren schon zu weit gekommen, um nun aufzugeben. Das Laufen fiel ihnen noch nie so schwer, alle Gliedmaßen waren angespannt und gereizt.

Marie war komplett außer Atem, sie lief über die Wiese. Man könnte meinen, dass ihre Mutter sie drüber schliff. Sie zitterte und wusste nicht recht ob vor Aufregung oder vor Erschöpfung. Sie setzte die Füße stets hinter einander, Schritt für Schritt. Ganz geordnet und konzentriert.

Doch das kleine Loch im Boden sah sie nicht kommen, durch die Dunkelheit der Nacht bemerkte sie nicht, wie ihr Fuß hinein geriet und sie umknickte. Ehe sie den Fall richtig abfangen konnte, zog ihre Mutter sie auch schon weiter. Das war knapp, fast wäre sie hingefallen. Und von dort unten hätte sie ein einfaches Ziel abgegeben. Doch es kam besser, sie fiel nicht. Denn die Grenzer kamen schon von allen Seiten und umzingelten sie langsam.

Ihnen blieben noch rund 5 Minuten, um den letzten Zaun zu überwinden.

 

Je umso weiter sie sich vom Schlagloch wegbewegte, umso glücklicher war sie über ihr Glück im Unglück. Denn wäre sie gefallen, hätte sie wichtige Zeit für ihre Flucht verloren. Sie waren nun fast am Metallgitterzaun angelangt. Da bemerkte Marie, dass etwas fehlte. Um genau zu sein: es fehlte jemand. Nämlich ihr kleiner Stoffbär „Teddy“, den sie damals von ihren verstorbenen Vater geschenkt bekommen hatte. Er war das einzige, was ihr von ihm geblieben ist. Sie musste ihm beim Umknicken verloren haben, dachte sie.

Ihnen blieben nun nur noch 4 Minuten, um den Zaun zu überwinden.

 

Ohne ihn würde sie unmöglich den Zaun überwinden können. Marie war der Meinung, dass keiner zurückgelassen werden dürfe. Also riss sie sich mit einem Ruck von der Hand ihrer Mutter los.

Das Entsetzten von Frau Schiller war ihr wie ins Gesicht geschrieben. Aber das kümmerte Marie nicht. Es war doch noch genug Zeit, um den Bären zu retten, war sie sich sicher. Sie nahm all ihren Mut zusammen und rannte zurück. Stets in einer geraden Linie, damit sie das Loch im Boden besser finden konnte.

Ihnen blieben noch rund 3 Minuten, um den Zaun zu überwinden.

 

„Er muss hier doch irgendwo sein.“, sagte sie schließlich, schon ganz außer Atem. Ihre Mutter rannte ihr nach. All den Weg hetzte Marie zurück, sie hatten es schon fast über den Zaun geschafft. Doch Marie konnte nicht ohne ihren Stoffbären, ein neues Leben beginnen. Durch das grelle Licht der Scheinwerfer sah sie den Bären schon vom weiten. Er lag im Dreck auf der Wiese. Sie bückte sich, um ihn aufzuheben.

Ihnen blieben noch 2 Minuten, um den Zaun zu überwinden.

 

Frau Schiller hingegen holte Marie fast ein, aus der Ferne konnte Marie sie bereits erblicken.

Marie richtete sich auf, den Stoffbären eng umklammert. Sie gab ihn einen kleinen Kuss und drehte sich dann zu ihrer Mutter um. Nur noch wenige Meter trennten die beiden von einander. Marie lächelte, sie dachte, nun würde alles gut werden.

Ein Schuss durchbohrte die Stille. Es brauchte nur einen Schuss, um die kleine Marie zu Boden zu reißen. Es drückte sie auf den Boden mit einer solchen Wucht, dass man dies nicht in Worte fassen kann. Sie spürte das Projektil, das sie tötete gar nicht, sie hörte es nicht mal. Es traf sie direkt in ihr kleines, viel zu großes, Herz. Sie war schon, bevor ihre Mutter sie erreichen konnte, tot. Den kleinen Stoffbären hatte sie immer noch, wie ein Schild vor ihre Brust gerichtet. Doch die Kugel traf sie direkt in den Rücken, durchbohrte ein paar Organe und traf sie tödlich. Ihre Kleidung war blutüberströmt, ihr Körper ganz kalt und farblos. All die Heiterkeit aus ihrem Gesicht war ihr entzogen wurden, sie wurde ihr geraubt. Ihr Blick wurde leer, die kleinen Sprengler in ihren Augen verschwanden. Und ihr Lachen, ja ihr Lachen das verstummte, auf ewig.

Frau Schiller blieb noch 1 Minute, um den Zaun zu überwinden.

 

Frau Schiller war sprachlos, gar reglos. Sie musste sich zu dem leblosen Körper ihrer Tochter hinziehen. Ihre Beine gehorchten ihr schon lange nicht mehr. Sie knickten in sich zusammen. Als sie sich über die nasse, kalte, dreckige Wiese zog, musste sie daran denken wie Marie sich so gerne ins Gras legte. Dort verweilte sie für gewöhnlich dann den ganzen Vormittag. Mit sich selbst im Reinen und friedlich wie ein Kaninchen.

Sie schrie: „Marie!! Bitte sag mir, dass es dir gut geht! Marie!!!!“ Nichts, kein Nicken, kein Winken, kein Muskel bewegte sich. Frau Schiller schrie noch öfter Maries Namen, mit jedem Mal wurde der Schrei hilfloser und unverständlicher. Als Frau Schiller endlich bei ihr ankam, war es bereits zu spät. Marie atmetet nicht mehr. Ihr Herz durchlöchert von der kalten Metallkugel und zu Boden gerissen von dem Aufprall. Frau Schiller zog ihren Mantel aus und legte ihn schützend über Marie. „Du musst doch frieren, Kleine“, hauchte sie ins Leere. Denn da war niemand, der ihr antworten konnte. Sie umarmte Marie und ließ sie nicht mehr los.

Ihr blieben noch 0 Minuten, um die Mauer zu überwinden.

 

Innerhalb weniger Sekunden waren die Grenzer eingetroffen. Sie entzogen Marie den untröstlichen Händen ihrer Mutter. Sie brachten sie weg. Ihr Körper wurde irgendwo entsorgt.

Frau Schiller sah sie nie wieder, es gab kein Begräbnis für Marie und auch keine Trauerfeier. Man tat so, als hätte Marie nie existiert. Ihr Name geriet in Vergessenheit und schon bald redete keiner mehr über das kleine Mädchen mit dem gelben Regenmantel von nebenan.

Ihre Mutter bekam einen Prozess und wurde wegen Republikverrat verurteilt.

Bis zum Mauerfall verbrachte sie ihre Zeit in einem Ostberliner Gefängnis, dessen Namen sie nicht einmal kannte. Es interessierte sie nicht mehr. Im Leben würde sie sowieso nicht mehr glücklich werden, dann könnte sie auch im Gefängnis verfaulen, dachte sie. Ihr war immer klar, dass sie eingesperrt werden würde, falls ihr Plan misslingt. Doch sie hatte im Traum nicht damit gerechnet, Marie zu verlieren. Ihr Ein und Alles. Sie kam über diesen Verlust nie hinweg. Nicht 1990, auch nicht 2000 und ganz gewiss nicht in den Jahrzehnten 2010 bis 2020. Marie hinterließ in ihr eine Lücke, die niemand anderes füllen konnte, sie starb einsam und alleine mit einem gebrochenen Herzen.

 

An dieser Stelle könnte der Erzähler jetzt seine Feder nieder legen, schweigend den Saal verlassen und alles wäre gesagt, zu Ende erzählt. Doch stattdessen verlasse ich die Zeilen dieser Geschichte mit einem letzten gedanklichen Anstoss. Denn wussten Sie, dass an der Mauer, zwischen 1950 bis 1989 um die 200 Menschen ihr Leben verloren haben.

Meine Marie war eine von ihnen.

Ihre Träume würden sich nie verwirklichen und wurden mit einem Kugelschuss für sie entschieden.

Marie, so wie all die anderen Menschen, hätte ein farbenfrohes Leben führen können, doch diese

Chance wurde ihr geraubt. Es hätte alles anders für sie kommen können, doch das tat es nicht.

Ach wie gerne wäre Marie nicht ein Teil von ihnen.

Wie gerne wäre sie:

 

Nur ein Mädchen. 

 

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